Verborgen im Tiergarten

Wer an Straßenstrich denkt, denkt an Frauen auf der Kurfürstenstraße – und übersieht die Seitenstraße der minderjährigen Jungs

Im Tiergarten kann man häufig vor lauter Bäumen den jungen Mann dahinter nicht sehen.
Im Tiergarten kann man häufig vor lauter Bäumen den jungen Mann dahinter nicht sehen.

Die sind noch von Corona übrig geblieben«, erklärt Lukas Weber mit Blick auf ein Regal, in dem Dutzende Verpackungen mit FFP2-Masken gestapelt übereinanderliegen. Die Operationsmasken hingegen nutzen sie noch: »Wir haben freitags eine Sprechstunde, wo Ärzt*innen uns unterstützen. Sie arbeiten drei, vier Stunden auf Honorarbasis und versorgen hier Menschen. Das geht von Kopfschmerzen bis hin zu möglicherweise HIV-positiv oder Drogenkonsum.«

Weber ist Geschäftsführer bei »Hilfe für Jungs«. Der Verein unterstützt mit mehreren Projekten junge Männer und minderjährige Jungs bei sexualisierter Gewalt und sexueller Ausbeutung. Die Räumlichkeiten sind nur einige Meter von der Kurfürstenstraße entfernt – dem Berliner Straßenstrich.

»Diese hässlichen Räume sind die Geschäftsstelle. Da ist mein Büro und da die Finanzverwaltung«, sagt Weber und zeigt auf einen Raum hinter ihm. Sein Kollege winkt kurz und schließt dann seine Tür für Ruhe. »Alles, was wir an Geld haben, stecken wir in die Projekte und nicht in unsere Büroräume«, so der Geschäftsführer.

Unter anderem zählt dazu Subway, eine Aktion, bei der sie sich mit Minderjährigen und jungen Männern auf der Straße auseinandersetzen. »Wir treffen regelmäßig ungefähr eine Handvoll Jungs. Vielleicht fünf oder zehn. Mit denen versuchen wir dann zu arbeiten«, sagt Weber. Konkret heißt das: Zur Jugendhilfe bringen, bei der Wohnungsbeschaffung helfen, mental stabilisieren. Wenn es klappt, schaffen es die Minderjährigen raus aus der sexuellen Ausbeutung und rein in eine Ausbildung oder Lehre. »Manche kommen zehn Jahre später auf einen Kaffee vorbei und erzählen dann, dass sie jetzt eine Familie und Kinder haben oder einen gesicherten Job.«

Doch nicht alle haben positive Ausgänge. Manche der jungen Männer beobachtet der Verein seit sechs, sieben Jahren, anfangs seien die Betroffenen noch minderjährig gewesen. »Sie sind heute 22, 23 oder 24 und sind als Jugendliche nicht aus dem System rausgekommen, verkaufen noch immer ihren Körper. Da sehen wir dann, dass unser Sozialsystem versagt hat«, so Weber.

Die meisten Jungs und jungen Männer, die sie antreffen, seien aus Rumänien und Bulgarien. »Früher war das anders, da gab es auch viele Deutsche oder polnische Jungs. Es gibt sie sicher immer noch, aber sie müssen nicht mehr in die offene Szene gehen.«

Mit offener Szene meint Weber nicht die Kurfürstenstraße: Dies sei die Anschaffungsstraße der Frauen. Der Kiez von anschaffenden Männern, darunter auch Kinder und Jugendliche, sei hauptsächlich im Tiergarten oder in den Bars rund um den Fuggerkiez, auch Nollendorfkiez genannt.

Der Verein schaut an diesen öffentlichen Orten, dass nichts im Dunkeln passiert. In entsprechenden Kneipen, so Weber, behaupten die Betreiber*innen, sie würden Ausweise kontrollieren. So richtig klappt das aber nicht. »Das funktioniert vielleicht für einen Monat, weil gerade die Polizei da war und kontrolliert hat. Aber einen Monat später sehen wir Jungs, die 16 oder 17 sein könnten.«

Wenn er von Minderjährigen redet, spricht Weber nie von Sexarbeit oder Prostitution – die Definition müsse genau unterschieden werden, lautet seine Begründung. Denn Sexarbeit, so Weber, sei eine freiwillige, selbstständige Form der Arbeit, eher weniger der Straßenstrich. Stattdessen zählt er dazu Escorts, Massagedienstleistungen oder Onlyfans, ein Webdienst für Foto- und Videomaterial. Alles, was Minderjährige betreffe, sei hingegen Ausbeutung und niemals Sexarbeit – ganz gleich, was die Betroffenen selbst behaupten.

Eine Schätzung oder gar offizielle Zahl, wie viele Menschen in Berlin von Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung betroffen sind, gibt es nicht. Weber selbst trifft pro Jahr etwa 10 bis 15 Minderjährige an, meist im Alter von 16 oder 17, seltener 13 bis 15. Dazu jährlich etwa 50 bis 100 männliche Erwachsene, bei denen möglicherweise Ausbeutung im Hintergrund eine Rolle spielt.

Indes erfasste die polizeiliche Kriminalstatistik im vergangenen Jahr 72 Fälle von Menschenhandel mit insgesamt 74 geschädigten Personen. 2022 waren es 50 Fälle mit 52 Betroffenen. Über 20 Prozent der Betroffenen sind männlich. Das ergab eine Antwort von Franziska Becker (SPD), Staatssekretärin in der Senatsverwaltung für Inneres, auf eine parlamentarische Anfrage der Linke-Abgeordneten Anne Helm und Niklas Schrader. Zur Motivation ihrer Anfrage erklärt Helm, dass sie wissen wollte, wie aktiv die Polizei gegen Menschenhändler*innen vorgeht und wie effektiv sie Betroffenen weiterhelfen kann. Dass mit 72 bekannten Fällen pro Woche ein Fall pro Jahr behandelt wird, finde sie schockierend: »Gleichzeitig liefert die Anfrage wenig Informationen darüber, wie groß das Problem tatsächlich ist. Wir müssen davon ausgehen, dass die Dunkelziffer der Betroffenen deutlich höher ist.«

Staatssekretärin Franziska Becker erläutert in ihrer Antwort ferner, dass dem Senat nicht bekannt sei, wie vielen Betroffenen der Ausstieg aus dem Menschenhandel gelungen ist. Zu den Gründen des Scheiterns schreibt sie, dass die Umstände, in denen sich Betroffene befinden, die Inanspruchnahme von Hilfe erschwerten. »Häufig können sich Betroffene nur im näheren Umfeld des Tätigkeitsortes bewegen oder dürfen diesen nicht verlassen, sie kennen die Strukturen nicht und wissen nicht, wo sie Hilfe bekommen können.« Viele wüssten auch nicht, dass sie Opfer einer Straftat seien.

»Wir müssen die Armut bekämpfen in Rumänien, damit wir hier die Jungs nicht mehr im Tiergarten haben.«

Lukas Weber
Geschäftsführer des Vereins Hilfe für Jungs

Letzterem stimmt Lukas Weber von Hilfe für Jungs zu. »Es gibt den Fall eines Jungen, der über zwei, drei Jahre regelmäßig missbraucht wurde«, erklärt er. Der Täter sei ein Bekannter gewesen, einer aus dem Umfeld des Jungen. Anschließend habe der Täter den Jungen zu seinen Freund*innen gebracht, die ebenfalls pädophil waren. »Wir denken immer, wenn so etwas geschieht, dann hasst man diese Person doch abgrundtief. So einfach ist das aber nicht«. Da passiere viel, was mit Machtstruktur und Zuneigung zu tun habe. »Der Junge denkt dann vielleicht, klar, er wurde rumgereicht, aber es sind seine Freunde.«

Ein solches näheres Umfeld, das dem Kind mehr schadet als hilft, können Nachbar*innen, Verwandte, aber auch Familienmitglieder sein. Bei anschaffenden Rumänen und Bulgaren seien es häufig die Eltern, die ihr Kind in die Ausbeutung schicken, so Weber. »Wir denken oft, in der Familie laufe es ab nach dem Motto: Friede, Freude, Eierkuchen. So ist es aber nicht.« Nicht jede Familie teile die Ansicht der Mehrheitsgesellschaft, was ein gutes Leben für ein Kind sei.

Dabei sind einige der Jungs, die zum Anschaffen nach Deutschland geschickt werden, mit 15 bereits verheiratet und haben eigene Kinder. Mit 12 Jahren werden sie dazu gedrängt, Geld zu verdienen. Das seien Minderjährige, die selbst in ihren Herkunftsländern aus prekären Verhältnissen stammen, erklärt Weber. »Es sind Roma, die schon dort nicht die größte Lobby haben, sondern auf der ganzen Welt angefeindet werden.« Für diese Kinder stelle Berlin allein eine Verbesserung der Lebensqualität dar, da sie hier viel mehr Möglichkeiten hätten, Geld zu verdienen. Diejenigen mit Schulabschluss hingegen hätten es nicht nötig, nach Deutschland zu kommen.

Bessere Lebensqualität hin oder her – kein Kind sollte Ausbeutung ausgeliefert sein. Daran arbeitet auch die Polizei: Wenn der Exekutive Opfer des Menschenhandels oder der Zwangsprostitution bekannt werden, »werden umgehend alle notwendigen Maßnahmen eingeleitet, um sie aus ihrer (Zwangs-) Situation zu befreien«, schreibt Staatssekretärin Franziska Becker. »Bei polizeilichen Feststellungen von minderjährigen Betroffenen werden diese an den Kinder-, Jugend- oder Mädchennotdienst übergeben, wo alle notwendigen Schutz-, Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen in eigener Zuständigkeit sichergestellt werden.«

Indessen wünscht sich Lukas Weber, dass mehr präventiv vorgegangen wird. Er fordert eine feministische Außenpolitik, ganz nach Bundesministerin Annalena Baerbocks Modell: »Alle haben gelacht, aber sie hat recht. Wir müssen die Armut bekämpfen in Rumänien, damit wir hier die Jungs nicht mehr im Tiergarten haben.«

Darüber hinaus sei es notwendig, Polizei, Justiz und soziale Arbeit finanziell und personell besser aufzurüsten und aktiver in den Jugendschutz einzugreifen: Wenn er nachts einen Jungen treffe, der ihm und seiner Arbeit vertraue, hadere er damit, direkt die Polizei zu rufen. »Sonst sagt er sich natürlich auch: Cool, danke, ich komme nie wieder zu euch.« Um das mit Mühe aufgebaute Vertrauensverhältnis nicht sofort zu zerstören, brauche es eine besser aufgestellte Polizei, die nicht erst auf den Anruf des Vereins wartet, um einzugreifen.

Vom nordischen Modell, also der Kriminalisierung von Sexkäufer*innen und Zuhälter*innen, hält Weber nicht viel: »Diejenigen, die ungeschützt sind, bekommen mehr Probleme, und diejenigen, die selbstbestimmte Sexarbeit anbieten, kriegen noch mehr aufs Maul«, erklärt er. Viel eher plädiert er dafür, die Zivilgesellschaft in die Verantwortung zu ziehen. Für ihn seien eine feministische Erziehung und frühe sexuelle Aufklärung notwendig, damit es zu einer Gesellschaft komme, die Ausbeutung gar nicht erst zulässt – ganz gleich, ob Betroffene minderjährig sind oder nicht.

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