Paralympischer Quantensprung durch soziale Kompetenz

Die gute Entwicklung wird durch selbstbewusste Sportlerinnen und Sportler getragen

  • Ronny Blaschke
  • Lesedauer: 4 Min.
Influencer mit wichtigen Botschaften: Der ehemalige paralympische Speerwerfer Mathias Mester bespielt wie bei der Fernsehsendung »Let’s Dance« die großen Bühnen.
Influencer mit wichtigen Botschaften: Der ehemalige paralympische Speerwerfer Mathias Mester bespielt wie bei der Fernsehsendung »Let’s Dance« die großen Bühnen.

Bei den Paralympics 2016 in Rio verpasste der Speerwerfer Mathias Mester eine Medaille. Trotzdem war er einer der deutschen Aktiven mit den größten Reichweiten. Auf dem Rückflug legte sich der 1,42 Meter große Athlet in das Gepäckfach über seinem Sitz und schlief. Ein Foto davon verbreitete sich rasant. Schon bald nach seiner Ankunft hatte es mehr als eine Million Aufrufe. Die »Bild« titelte: »Mester fliegt zurück im Handgepäckfach.«

Mester beendete seine sportliche Laufbahn 2021, medial ging es danach erst richtig los. Er war zu Gast in Talkshows, nahm an der RTL-Sendung »Let’s Dance« teil, veröffentlichte eine Biografie und hielt Vorträge. In seinen Beiträgen auf Instagram, wo er rund 235 000 Follower hat, möchte er auch über den Alltag von Menschen mit Behinderungen aufklären. »Ich mag es nicht, wenn man solchen Themen mit Mitleid entgegensieht«, sagt er: »Mit Spaß kommt man einfach viel, viel weiter. Spaß verbindet und ist eine tolle Plattform.«

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Es ist nicht lange her, da berichteten vor allem Gesundheitsmagazine über die Paralympics. Oft war von »Schicksalen« die Rede, von Sportlern, die an den Rollstuhl »gefesselt« seien. Im Mittelpunkt der Berichterstattung stand die Behinderung, nicht die sportliche Leistung. Athleten wie Mester verdeutlichen nun, wie sehr sich die paralympische Bewegung gewandelt hat. Der sportliche Erfolg ist wichtig, aber nicht das einzige Kriterium: Mit Schlagfertigkeit, Sponsoren und einem professionellen Management können Paralympier zu einflussreichen Influencern aufsteigen.

An diesem Mittwoch öffnet sich nun die wichtigste Bühne für diese Influencer. In Paris nehmen rund 4400 Sportlerinnen und Sportler aus 167 Ländern an den 17. Sommer-Paralympics teil. Im deutschen Team sind 143 Aktive und fünf Guides vertreten. Unter ihnen sind erfahrene, bekannte und medaillenverwöhnte Leitfiguren wie die Leichtathleten Markus Rehm oder Niko Kappel, aber auch 57 Athleten, die zum ersten Mal an den Paralympics teilnehmen.

»Die meisten Athleten bei uns kann man vors Mikrofon stellen, die können gerade Sätze sagen«, erzählt Karl Quade, Chef de Mission der deutschen Paralympier: »Sie haben eine hohe Sozialkompetenz, ob im Beruf oder in der Familie.« Im olympischen Bereich, ergänzt Quade, habe er manchmal das Gefühl, dass die Sportler in ihrer Sozialisation etwas eingeschränkt seien: »Weil sie sehr früh in die Sportschiene kommen, in der Sportschule oder in der Bundeswehr.«

Quade hat sich ausführlich mit den Biografien der deutschen Paralympier befasst. Er möchte nicht generalisieren, aber er glaubt, dass etliche Sportler womöglich auch wegen ihrer Behinderung ein Bewusstsein für das Gemeinwesen entwickeln. Der Kugelstoßer Kappel ist seit Langem für die CDU in politischen Gremien aktiv. Der Sprinter Johannes Floors möchte auch als Orthopädie-Techniker Menschen mit Prothesen zu mehr Bewegung animieren. Der Badmintonspieler Rick Hellmann befasst sich als Neurowissenschaftler an der Berliner Charité mit Rückenmarksverletzungen.

Natürlich seien die Paralympier pauschal nicht die besseren oder idealistischeren Sportler, sagt der Kommunikationsberater Holger Schmidt, der zuvor als Journalist von sieben paralympischen Spielen berichtet hatte. Eine solche Einstellung wäre gönnerhaft: »Da würde immer ein ›Obwohl‹ mitschwingen«, meint er. »Also obwohl sie behindert sind, haben sie diese oder jene Eigenschaft.« Trotzdem betonen Sponsoren in ihren Werbekampagnen zunehmend ein gesellschaftliches Bewusstsein der Paralympier. Unter ihnen sind Krankenversicherungen, Genossenschaftsbanken oder mittelständische Handwerksbetriebe.

Diese Entwicklungen haben die paralympische Bewegung wachsen lassen. Der Deutsche Behindertensportverband (DBS) hat seine Geschäftsstelle vergrößert und die Zusammenarbeit mit olympischen Verbänden intensiviert. Er organisiert Talenttage und fördert den Schulwettbewerb »Jugend trainiert für Paralympics«. DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher spricht von einem Quantensprung, zufrieden ist er noch nicht. Viele Sportstätten und Schulen sind nicht barrierefrei. Viele Trainer und Funktionäre in Vereinen stellen keine Angebote für behinderte Mitglieder bereit. Und die überwältigende Mehrheit der Menschen mit Behinderungen traut sich Sport nicht zu.

Die Paralympics in Paris werden nun spektakuläre Bilder liefern. Die Eröffnungsfeier an diesem Mittwoch wird nicht im Stadion, sondern im Stadtzentrum stattfinden: auf der Place de la Concorde und den Champs-Élysées. »Für die Paralympics kann Paris die nächste Entwicklungsstufe sein«, sagt Andrew Parsons, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees. Das IPC arbeitet für die Spiele auch mit Youtube und Tiktok zusammen. So sollen Tausende Videos, Clips und Reels in 175 Ländern verfügbar sein. Es scheint, als sei das mediale Wachstum der Para-Influencer noch lange nicht abgeschlossen.

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