Risikofaktor beengtes Wohnen

Noch eine Pandemiebilanz: Der Zugang zu medizinischer Versorgung war in der Schweiz für Ärmere schwieriger

  • Kim Nowak
  • Lesedauer: 4 Min.
Homeoffice unmöglich: Kellnerin mit Mund-Nasen-Schutz im Kanton Neuchâtel
Homeoffice unmöglich: Kellnerin mit Mund-Nasen-Schutz im Kanton Neuchâtel

Auch wenn die Corona-Pandemie für die Allgemeinheit keine Rolle mehr spielt, ist das Virus in der Schweiz weiterhin virulent. Bis zum Stichtag 5. August 2024 infizierten sich knapp 4,46 Millionen Schweiz*innen mit dem Virus, was die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Von diesen sind 14 170 an der Krankheit gestorben.

Erhöhtes Risiko für schwere Erkrankungen in sozialen Berufen

Dass alle Menschen gleich gefährdet für eine Infektion oder auch Todesfolge waren beziehungsweise sind, hat nun jüngst eine Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums widerlegt. In dem Papier, das von Johanna Dayer Schneider und Serge Houmard vom Bundesamt für Gesundheit veröffentlicht wurde, wird konkret auf die soziale Situation der Infizierten eingegangen und dargelegt, welchen Zusammenhang es zwischen Demografie, Vorerkrankung, Sozialstatus und Expositionsrisiken sowie der Verbreitung des Virus gibt. Schon internationale Studien legten den Zusammenhang nahe, der jetzt von schweizerischen Forscher*innen für die Alpenrepublik belegt wurde.

»Unsere Studie zeigt, dass sozial benachteiligte Gruppen besonders häufig so schwer an Covid-19 erkrankt sind, dass sie ins Spital mussten«, so Lucy Bayer, eine der Forscher*innen von der Fachhochschule Nordwestschweiz. Besonders zu Beginn der Pandemie waren Werktätige in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Kindergärten einem erhöhten Risiko ausgesetzt. Also in jenen Berufen, die als systemrelevant bezeichnet werden und von der Regierung zwar beklatscht, aber nicht geschützt wurden.

Als wichtigste Erkenntnis nennt die Studie drei Faktoren für ein höheres Erkrankungsrisiko: niedriges Bildungsniveau, beengte Wohnsituation sowie unzureichende Bereitstellung von Informationen etwa für Impfangebote. Auch Geschlecht und Alter spielten dabei eine Rolle: So wurden Personen ab 40 Jahren häufiger hospitalisiert als Jüngere und außerdem Männer zu 70 Prozent häufiger als Frauen. Doch auch in dieser Beziehung spielt die soziale Situation eine ausschlaggebende Rolle.

Dabei verweist die Studie auf vier wichtige Faktoren: ungleiche Expositions- und Übertragungsrisiken wie auch ungleiche Anfälligkeiten und Zugänge. So waren jene Berufsgruppen vermehrt gefährdet, in denen das Arbeiten im Homeoffice nicht möglich ist. Die Gefährdung war auch größer bei fehlenden Möglichkeiten für Schutzmaßnahmen in beengten Wohnsituationen, in denen größtenteils Werktätige und Migrant*innen leben.

Mehr Vorerkrankungen bei Benachteiligten

Ähnlich sieht es bei der Anfälligkeit und beim Zugang zu Informationen aus. Bereits vor der Pandemie litten besonders sozial benachteiligte Personen an Vorerkrankungen, also deutlich mehr als privilegierte Gruppen. Das liegt unter anderem daran, dass ihre Möglichkeiten, einen Arzt aufzusuchen, geschweige denn zu bezahlen, geringer waren als bei wohlhabenden Menschen. Das Gleiche gilt bei der Informationsbeschaffung: Aufgrund von »Armut, Diskriminierung oder kulturellen und sprachlichen Barrieren« sei die Inanspruchnahme von Impfungen und anderen Präventionsmaßnahmen durch das Gesundheitssystem erschwert, so die Studie.

Auch kantonale Unterschiede gibt es, wobei sich innerhalb der einzelnen Kantone die soziale Ungleichheit in der Zahl von Infektionen und Todesfällen niederschlägt. Besonders getroffen hat es den Kanton Tessin in der südlichen italienischsprachigen Schweiz. Das liegt laut den Autoren daran, dass der Kanton wirtschaftlich eng mit der Region Lombardei in Italien verflochten ist, in der zu Beginn der Pandemie ein starker Covid-Ausbruch zu verzeichnen war.

Der Epidemiologe Viktor von Wyl von der Universität Zürich begrüßt die Studie sehr. Gegenüber dem Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) zeigt er sich besonders bei dem Thema Wohnsituation überrascht: »Das haben wir bisher in der Schweiz noch nicht messen können.« Die anderen Faktoren hatte er jedoch bereits vermutet. Auch wenn er betont, dass »nicht immer ganz klar« sei, wie »sozioökonomische Faktoren hineinspielen« würden, betont er, dass man bei bestehenden Vorerkrankungen und dem sozialen Status grundsätzlich mit einer schlechteren Prognose zu rechnen habe. Ob die Alpenrepublik und die Regierung aus der Studie entsprechende Schlussfolgerungen für potenzielle weitere Epidemien und Pandemien ziehen werden, bleibt jedoch abzuwarten.

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