Junge Frauen in Berlin: Verschleppt, verlobt, verheiratet

Wenn Mädchen nach den Sommerferien nicht in Schulen zurückkehren, sollten Lehrkräfte aufhorchen

Lehrkräfte müssen besonders sensibel mit Verschleppung und Zwangsverheiratung umgehen
Lehrkräfte müssen besonders sensibel mit Verschleppung und Zwangsverheiratung umgehen

Die Schulglocke kündigt mit ihrem Läuten den neuen Schulstart an. Die Lehrkraft vorn am Pult liest die Namen der Schüler*innen vor und stellt dabei fest: ein Kind fehlt. Und das Kind wird auch fortan fehlen und nicht mehr auftauchen – es ist weg, verschleppt, vielleicht sogar zwangsverheiratet.

»Ob den Lehrkräften am Anfang des Schuljahres schon auffällt, dass bei fehlenden Mädchen eine Verschleppung die Ursache ist, kann man schwer sagen«, sagt Andrea Richter. »Es ist ja auch nicht ihr Job, sie sind keine sozialen Fachkräfte. Dabei sind sie oft die ersten Ansprechpersonen der Mädchen.«

Richter ist Onlineberaterin von Papatya, einer anonymen Krisen- und Übergangseinrichtung für Mädchen und junge Frauen in Berlin. Da sie bei ihrer Arbeit immer wieder mit gewaltbereiten Familien zu tun hat, spricht Richter nur unter Pseudonym mit »nd«. Die Organisation hilft Betroffenen, die sich mit familiärer Gewalt, Verschleppung und Zwangsverheiratung konfrontiert sehen. Ihre Hauptzielgruppe sind Mädchen und junge Frauen im Alter von 15 bis 21. Wie viele in Berlin konkret von einer Verschleppung oder Zwangsverheiratung betroffen sind, kann Richter nicht sagen.

»Das ist ein großes Dunkelfeld. Wir haben in der Regel hundert bis hundertzwanzig Beratungsanfragen im Jahr nur zu diesem Themenfeld, das sind sowohl drohende Verschleppungen als auch erfolgte.« Allerdings, so Richter, würden sich nicht alle Betroffenen Hilfe holen, und wenn doch, dann nicht zwangsläufig bei Papatya. Andererseits seien ihre Zahlen nicht ausschließlich auf Berlin begrenzt, da Papatya bundesweit Anfragen erhalte.

Doch was passiert konkret bei einer Verschleppung? »Die Mädchen und jungen Frauen werden meistens unter dem Vorwand eines Familienurlaubs ins Herkunftsland gebracht und dort zurückgelassen«, erklärt Mona Siegert, Leiterin von Papatya, die ebenfalls nur unter Pseudonym auftritt. Laut Siegert werden den Mädchen sämtliche Kontaktoptionen abgeschnitten, sodass sie die Möglichkeit verlieren, nach Hilfe zu fragen oder sich dagegen zu wehren. »Die Familien haben das Gefühl, sie verlieren die Kontrolle über das Mädchen. Deswegen werden sie weggeschickt, das Handy und die Papiere werden ihnen weggenommen.«

Damit ein Mädchen oder eine junge Frau aus Sicht der Eltern »außer Kontrolle« gerät, braucht es nicht viel. Es genügt schon ein heimlicher, fester Freund. Damit die Familie ihren Ruf nicht verliert, werde sie ins Ausland geschickt, wo sie bei Verwandten ein Leben führen muss, das den Ansprüchen der Eltern entspricht. In manchen Fällen werde sie auch zwangsverheiratet. Das passiere nicht nur im Ausland, sondern auch durch einen Wechsel in eine andere, innerdeutsche Stadt, so die Leiterin.

»Sie kommen erst zu uns, wenn die Gewalt nicht mehr aushaltbar ist.«

Andrea Richter (Pseudonym)
Onlineberaterin von Papatya

»Es handelt sich dabei oft um religiöse Ehen, die natürlich eine Wirkmächtigkeit haben. Aber es sind keine zivilen, gesetzlich in Deutschland geltenden Ehen«, sagt Siegert. Aufgrund der Hochzeitszeremonien samt Austausch von Ringen seien die Mädchen in der eigenen Wahrnehmung trotzdem verheiratet. Mit 18, wenn sie volljährig sind, wird dann im Standesamt die Ehe legal unterschrieben.

Der Berliner Senatsverwaltung für Soziales zufolge ist Zwangsverheiratung eine Form von Gewalt, die dann vorliegt, wenn Betroffene sich zur Ehe gezwungen fühlen und entweder mit ihrer Weigerung kein Gehör finden oder es nicht wagen, sich zu widersetzen, weil Familie oder Verlobte Druck auf sie ausüben. In Deutschland ist Zwangsverheiratung seit 2011 als solche ein Straftatbestand, davor galt sie als eine schwere Form der Nötigung. Mit der Änderung des Strafgesetzbuches wurde auch die Frist für die Aufhebung einer Ehe in Fällen von Zwangsverheiratungen von einem auf drei Jahre angehoben.

Eine nicht repräsentative Abfrage im Sommer 2023 ergab, dass in Berlin im Jahr zuvor insgesamt 496 Fälle von versuchter oder erfolgter Zwangsverheiratung bekannt wurden. Das geht aus einer parlamentarischen Antwort von Micha Klapp hervor, Staatssekretärin für Arbeit und Soziales. 2017 seien es noch 570 gewesen. »In mehr als der Hälfte der bekannt gewordenen Fälle war die Zwangsverheiratung noch nicht erfolgt, sondern die Betroffenen berichteten von konkreten Planungen oder befürchteten zwangsverheiratet zu werden«, so Klapp. Befragt wurden sowohl staatliche als auch nicht staatliche Institutionen wie Beratungseinrichtungen, Polizei, Jugendämter und Schulen. Von insgesamt 532 Einrichtungen gaben 187 an, »grundsätzlich mit dem Thema konfrontiert zu sein«, so Klapp. Mit 91 Prozent waren hauptsächlich Mädchen und junge Frauen betroffen, im Alter von 16 bis 21. Jungs und Männer sind meist im selben Alter davon betroffen.

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Was Zwangsheirat als Straftatbestand angeht, erfasste die Berliner Polizei indes im Zeitraum vom 1. Januar 2023 bis 30. Juni 2024 insgesamt acht Fälle. Dies betreffe dann schon Volljährige, »aber eine zivilrechtliche Ehe, die unter Zwang eingegangen wird, kann innerhalb von drei Jahren aufgehoben werden«, sagt Mona Siegert von Papatya. »Und religiöse Ehen müssen gar nicht wirklich aufgelöst werden, weil sie vor dem deutschen Gesetz sowieso keine Wirksamkeit haben.« Das größte Problem für die meisten Mädchen und Frauen, die aus diesem System ausbrechen wollen, sei vielmehr der Bruch mit der eigenen Familie.

»Das sind sehr geschlossene Familiensysteme, die sehr patriarchal organisiert sind«, erklärt Siegert. Onlineberaterin Andrea Richter ergänzt: »Viele Betroffene haben gar nicht das Gefühl, dass ihnen ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben zusteht. Sie denken dann, dass ihr selbstbestimmtes Handeln negative Auswirkungen auf ihre Geschwister hat.«

Siegert erzählt auch von Betroffenen, die sich erst nach Hilfe umschauen, wenn die Eskalation ein gewaltiges Maß erreicht hat. »Sie kommen oft erst zu uns, wenn die tägliche Gewalt und Demütigungen so an der Grenze sind, dass es für Betroffene nicht mehr aushaltbar ist. Aber selbst dann haben sie ein ganz schlechtes Gewissen gegenüber ihrer Familie und kehren deshalb auch oft wieder zurück.«

Das sei für viele Jugendämter ebenfalls eine frustrierende Angelegenheit, erzählen Richter und Siegert. So gebe es nicht selten Fälle von Mädchen, die sich an das Jugendamt wenden, nur um einige Zeit später wieder zu ihren Familien zurückzukehren. »Da brauchen Jugendämter auch eine professionelle Distanz«, räumt Richter ein. »Aber ja, es ist frustrierend, wenn man Fälle hat, bei denen man sich sehr engagiert hat, nur um die Mädchen dann wieder zurückkehren zu sehen.«

Die beiden berichten auch von Jugendämtern, die sich, sobald das Mädchen in eine andere innerdeutsche Stadt verschleppt wurde, nicht mehr zuständig sehen. »Sie sagen dann, das sei nicht mehr ihr Gebiet und kümmern sich nicht weiter um den Fall«, empört sich Richter. Und das Jugendamt in der neuen Stadt der Verschleppten wisse oft nichts von dem Fall, sodass das Mädchen dort unter dem Radar bleibe. »Da wünschen wir uns auch, dass die Jugendämter besser miteinander kommunizieren und zusammenarbeiten.«

Da die erste Anlaufstelle von Hilfebedürftigen aber nicht direkt das Jugendamt, sondern in erster Linie Lehrkräfte sind, wünscht sich Richter hier besonders viel Kompetenz und sensiblen Umgang. So passiere es viel zu oft, dass Lehrkräfte erst einmal Tochter und Eltern zusammenbringen, um die Geschichte gemeinsam zu besprechen. Das sei eine Katastrophe, sagt Richter. »Das Thema ist ein großes Tabu. Wenn Familien herausfinden, dass sich ihre Kinder in der Schule Hilfe suchen, verschlimmert es die Konfliktlage und die Isolation der Mädchen.« Stattdessen sei es besser für Betroffene, wenn die Lehrkräfte sie einmal aus dem Unterricht nehmen, um sie während der Schulzeit zu einer Beratungsstelle zu schicken. Aber auch eine Überreaktion und starke eigene Verstrickung seien nicht besonders hilfreich. Denn das führe dazu, dass Lehrkräfte von Eltern bedroht werden und sich komplett aus der Thematik rausziehen. Vielmehr sei es wichtig, eine Sensibilität für die Thematik zu bekommen und das Mädchen weiterzuvermitteln oder an Anlaufstellen zu übergeben.

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