Anschwimmen gegen das Trauma

Alexandra Truwit verlor bei einer Haiattacke Teile ihres Beins, jetzt schwimmt sie bei den Paralympics

  • Felix Lill
  • Lesedauer: 4 Min.
Schwimmen: Anschwimmen gegen das Trauma

Für alle Heranwachsenden, die keine Lust auf Schwimmunterricht in der Schule haben, hat Alexandra Truwit eine Mahnung parat: »Schwimmen hat mir definitiv das Leben gerettet«, sagt die 24-Jährige mit weit aufgerissenen Augen. 15 Jahre war sie auf Leistungsniveau geschwommen, ehe sie an einem Tag im Mai 2023 alles, was sie in unzähligen Trainingseinheiten gelernt hatte, anwenden musste. Immerhin trat sie gegen einen Hai an. Und schwamm am Ende ohne Fuß, aber mit dem Leben davon.

Bei den Paralympischen Spielen von Paris zählt Alexandra Truwit zweifellos zu den schillerndsten Persönlichkeiten. Am Sonntagmorgen reichte es für die Schwimmerin in der ersten Runde über 100 Meter Freistil allerdings nicht fürs Weiterkommen. Am 5. und 6. September startet sie erneut über 400 Meter Freistil und 100 Meter Rücken. Ihre unglaubliche Geschichte dürfte also auch in den kommenden Tagen noch einige Male erzählt werden.

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Alexandra Truwit selbst hat sie gegenüber US-amerikanischen Medien schon so erzählt: »Zwei Tage nach unserem College-Abschluss fuhr ich mit einer meiner besten Freundinnen auf einen Schnorcheltrip.« Zu den Turks- und Caicosinseln nahe der Bahamas waren sie gereist, um die atemberaubende Natur über und unter Wasser zu erleben. Dort passierte es: »Aus dem Nichts kam ein Hai auf uns zu, rammte uns, attackierte uns.«

Die zwei Freundinnen wehrten sich mit Kräften. »Wir kämpften zurück. Aber ziemlich schnell war mein Bein in seinem Maul«, erinnert sich Truwit. »Das Nächste, woran ich mich erinnere, war, dass mein Fuß und ein Teil meines Beins abgebissen waren.« Die Distanz, die Alexandra Truwit und ihre Freundin und Schwimmkollegin Sophie Pilkinton im Ozean bis zu ihrem Boot schwimmen mussten, hat die Überlebende mal auf rund 25, mal auf gut 80 Meter geschätzt.

Klar scheint: Um vor einem Hai davonzuschwimmen, war es eine beträchtliche Strecke. »Alles, was ich gelernt hatte, musste ich zu meinem Vorteil nutzen, in einer Situation, in der ich eigentlich keinen Vorteil hatte.« Denn der jungen Frau, die gerade ihr Studium in kognitiven Wissenschaften und Ökonomie abgeschlossen hatte, war in jenen Momenten völlig bewusst: »Ich hatte keinen Fuß mehr und blutete stark. Der Hai kreiste auch noch um uns.«

Die zwei schafften es auf ihr Boot. Sophie Pilkinton band ihrer Freundin das Bein ab, damit Truwitt nicht noch mehr Blut verlor. Die Zeit danach verbrachte Alexandra Truwit im Krankenhaus. Doch bald schon folgte die Bewältigung eines Traumas. »Es war dann schwierig für mich, Wassergeräusche auch nur zu hören und nicht gleich wieder gedanklich in die Momente dieses Haiangriffs zurückgeworfen zu werden.«

Kaum eine Gattung von Lebewesen aus dem Meer ruft bei Menschen so viel Faszination, aber auch so viele Ängste hervor wie Haie. Sie gelten als elegant und schön, aber auch als gefährlich. Bilder aus erfolgreichen Filmen wie »Der weiße Hai« oder »The Beach«, in denen ein Hai nah an der Wasseroberfläche, mit der Rückenflosse sichtbar an der Luft, schwimmende Menschen angreift, haben sich im kollektiven Gedächtnis eingeprägt. Unzählige weitere Geschichten, Cartoons und Karikaturen adaptieren solche Bilder.

In Wahrheit sind Angriffe durch Haie selten. Das Florida Museum of Natural History, das hierzu Statistiken führt, kommt für das Jahr 2023 auf weltweit 120 Interaktionen zwischen Menschen und Haien, in 91 Fällen biss der Hai zu – dies traf zu 42 Prozent Personen, die surften, schnorchelten oder andere Wassersportarten betrieben. Zudem kommt es meist dann zu Bissen, wenn Menschen ins natürliche Habitat der Haie eindringen.

Gestorben an den Interaktionen sind 2023 weltweit 14 Personen, lebenslang verletzt deutlich mehr. Alexandra Truwit gehört zu denen, die sich nicht zurückwerfen lassen wollten. Drei Monate nach der traumatisierenden Begegnung im Ozean war sie wieder im Wasser, wenn auch in einem Schwimmbecken, und begann zu trainieren. »Ich wollte für all das kämpfen, was ich zurückkriegen könnte. Meine Liebe fürs Wasser gehörte dazu.« 2024 war sie schon bei den Para Swimming European Open Championships im portugiesischen Funchal dabei, wurde über 400 Meter Freistil Zweite.

Auf dem Weg ins neue Leben half auch der Austausch mit Personen, die Ratschläge geben können. Truwits Prothesenbauer stellte Kontakt zur Para-Schwimmerin, mehrfachen Medaillengewinnerin und Buchautorin Jessica Long her. Die zwei wurden Freunde. »Ihr Selbstvertrauen und die Art, wie sie ihre Prothese auch stolz außerhalb des Beckens zeigt, haben mir Kraft gegeben, mich so zu akzeptieren«, sagt Truwit. »Ich habe Glück, sie in meinem Leben zu haben.«

Auch die 32-jährige Jessica Long tritt diese Tage in Paris an. Eine direkte Konkurrentin von Alexandra Truwit ist sie aber nicht. Long schwimmt in der Kategorie S8, die für eher milde Beeinträchtigungen vorgesehen ist wie einen Mangel an umfassender Muskelkraft. Truwit dagegen gehört der Kategorie S10 an, wo Personen mit Bewegungseinschränkungen in Hüfte oder unteren Beinpartien teilnehmen oder eben solche mit Fußamputation.

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