Grenfell: Die vermeidbare Katastrophe

Vernichtende Kritik im Untersuchungsbericht zum Brand des Grenfell-Hochhauses in London

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.
Gedenken am siebten Jahrestag an die Opfer des Grenfell-Tower-Brandes
Gedenken am siebten Jahrestag an die Opfer des Grenfell-Tower-Brandes

Am Mittwoch gegen 12 Uhr trat Natasha Elcock vor einem Londoner Regierungsgebäude an die Mikrofone und sagte: »Der Richter ist zum selben Schluss gekommen wie wir: Jeder Todesfall jener Nacht war vermeidbar. Wir haben Freunde, Nachbarn und Angehörige durch Raffgier, Korruption, Inkompetenz und Vernachlässigung verloren.« Elcock ist die Vorsitzende der Kampagne Grenfell United, gegründet nach dem verheerenden Großfeuer, das einen Londoner Wohnblock im Juni 2017 erfasste. 72 Menschen verloren damals ihr Leben, darunter 18 Kinder und auch Elcocks Onkel. Es war eine der schlimmsten Katastrophen der britischen Nachkriegszeit.

Am Mittwoch legte Richter Martin Moore-Bick seinen 1700 Seiten langen Abschlussbericht zu dem Brand vor. Die unabhängige Grenfell Inquiry, der Moore-Bick vorstand, war sechs Jahre lang bei der Arbeit und sichtete 300 000 Akten und Dokumente sowie mehr als 1500 Zeugen- und Expertenaussagen. Das Fazit ist vernichtend: Die Rede ist von »Jahrzehnten des Versagens« durch die Regierungen, von »systematischer Unehrlichkeit« seitens der Hersteller von Baumaterialien und von »anhaltender Gleichgültigkeit« der Lokalbehörde in Bezug auf die Feuersicherheit.

»Die einfache Wahrheit ist, dass jene, die im Wohnblock wohnten, über viele Jahre und auf verschiedene Arten im Stich gelassen wurden«, sagte Moore-Bick bei der Präsentation des Berichts. »Und zwar von jenen, die für die Sicherheit des Gebäudes und seiner Bewohner verantwortlich waren.«

Das Feuer im Grenfell Tower im Westen Londons brach in der Nacht vom 14. Juni 2017 aus, in einer Wohnung im vierten Stock, und breitete sich rasend schnell aus. Als die Außenverkleidung des Blocks zu brennen begann, glich das Hochhaus einer Fackel. Die Menschen versuchten sich in Sicherheit zu bringen, aber viele schafften es nicht.

Der Bericht der Grenfell Inquiry beleuchtet die Verantwortung jeder Behörde und jedes Unternehmens. Zu den Hauptschuldigen zählen demnach die Hersteller der brennbaren Außenverkleidung, die einige Jahre vor dem Brand an dem Sozialwohnungsblock angebracht worden war. Die Unternehmen hätten »absichtliche Strategien« verfolgt, um ihre Produkte als feuersicher zu verkaufen, obwohl sie wussten, dass sie ein Risiko darstellen.

Aber auch die Entscheidungsträger in Westminster kommen scharf in die Kritik. Seit den 90er Jahren hätten die Regierungen »viele Gelegenheiten« verpasst, sich mit der Gefahr durch brennbare Außenverkleidung zu beschäftigen. Insbesondere wird die konservativ-liberaldemokratische Regierung von David Cameron (2010–2016) kritisiert: Ihre Entschlossenheit, so viele Regulierungsvorschriften wie möglich über Bord zu werfen, habe dazu geführt, dass »Fragen der Sicherheit ignoriert, aufgeschoben oder missachtet wurden«.

Der aktuelle Premierminister Keir Starmer entschuldigte sich am Mittwoch bei den Überlebenden und den Familien der Opfer. »Es hätte nie passieren dürfen«, sagte er im Unterhaus. Die Regierung werde darauf hinarbeiten, die Empfehlungen der Kommission umzusetzen. Der Untersuchungsbericht enthält 58 Vorschläge, wie die Feuersicherheit in Wohnblocks verbessert werden kann, darunter die Einrichtung einer einzigen Regulierungsbehörde für die gesamte Bauindustrie und bessere Aufsichtsvorschriften für Bauunternehmen, die Gebäude renovieren.

Besonders dringlich sei es, die Tausenden Gebäude, an denen noch immer gefährliche Außenverkleidungen angebracht sind, so schnell wie möglich zu sanieren, sagte der Premierminister. Nach dem Grenfell-Desaster hätten die Behörden panikartig begonnen, Wohnblocks mit ähnlich brennbarer Fassadenverkleidung zu identifizieren – bislang mehr als 4600. An vielen hätten die Arbeiten bereits begonnen – »aber es geht viel zu langsam voran«, sagte Starmer. »Dies muss ein Moment des Wandels sein, und wir werden die nötigen Schritte unternehmen, um den Prozess zu beschleunigen.«

Für die Angehörigen der Opfer wird entscheidend sein, ob es zu strafrechtlichen Ermittlungen kommt. Die Londoner Polizei solle dafür sorgen, dass »jede einzelne Person, die am Tod unserer Angehörigen Schuld trägt, zur Verantwortung gezogen wird«, sagte Natasha Elcock. Bisher hat die Polizei aber nur angekündigt, den Bericht studieren und gegebenenfalls Ermittlungen einleiten zu wollen – das werde frühestens in zwölf Monaten passieren.

»Wir haben Freunde, Nachbarn und Angehörige durch Raffgier, Korruption, Inkompetenz und Vernachlässigung verloren.«

Natasha Elcock Kampagne Grenfell United
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