- Kultur
- Spaß und Verantwortung
Last Words
Auf einen Zaubertrank an der Bar (und noch einen)
»Ich muss die Dinge immer in Dreiecksform anordnen«, sagt sie, während sie an der ansonsten leeren Bar sitzen. Sie nimmt einen Schluck von einem leuchtend gelben Getränk, dann erklärt sie: »Wenn ich allein bin, lege ich mich diagonal ins Doppelbett, damit links und rechts neben meinem Körper jeweils ein Dreieck entsteht. Wenn ich mich in einem Raum ohne Ecken befinde, werde ich nervös. Aber auch im Gespräch mit zwei anderen Leuten versuche ich mich immer genau so hinzustellen, dass unsere drei Körper im Verhältnis eines gleichschenkligen Dreiecks zueinander stehen.«
Sie nimmt drei Servietten und ordnet sie so an, dass sie in der Mitte ein Dreieck freilassen. Dann nimmt sie das Wasserglas, die Streichholzschachtel und das Cocktailglas und ordnet sie ebenfalls dreiecksförmig an. Sie nimmt den letzten Schluck ihres »Last Words«, schaut dem Shaker eindringlich in die Augen und hat damit, wortlos, bereits den nächsten »Last Word« bestellt, für uns beide.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.
Der Shaker bewegt die Flüssigkeiten, die alle unterschiedliche Farben und Konsistenzen haben (manche wässriger, manche öliger) in dem geschlossenen Metallgefäß. Es macht laute Geräusche. Der Shaker ist in der Hierarchie des Raumes ganz oben, er darf so laut sein, wie er möchte. Es ist unklar, ob die Flüssigkeit sich im Prozess des Geschütteltwerdens vermehrt oder verringert, ob sie wächst oder schrumpft. Er füllt sie in zwei Cocktailgläser; sie beruhigt sich langsam und fängt an zu leuchten, als wäre sie ein Zaubertrank.
Die »Last Words« werden nie die letzten sein, ebenso wie die Welt niemals ganz in Dreiecke aufzuspalten ist. Das Streben nach Auflösung, nach Reinheit oder Vollendung wird durch die Unmöglichkeit, eine Auflösung zu erzielen, ins Unendliche verlängert – ebenso wie ein Gespräch.
Wenn man Pappmaché knetet, vermehrt sich die Menge des Materials; bei anderen Materialien passiert das Gegenteil: In Bewegung gebracht, schrumpfen sie. Manche werden härter, wenn man sie knetet, andere weicher. Worte können eine ähnliche Qualität haben: Sie können weitere Worte nach sich ziehen, einen ganzen (Rede-)Schwall, oder auch, als Sprechakt, eine Realität evozieren, die stumm bleibt. Keine Worte zu verlieren kann, im Angesicht einer Kommunikation, eine Geste der Macht sein.
»Wenn ein Tropfen aus einem Glas rinnt, folgt nämlich immer mehr als nur dieser Tropfen«, lerne ich – und auch dies liest sich wie eine Analogie auf das Begehren, das stärker wird, wenn es entfacht ist. Ein entweichender Tropfen kann einen ganzen Schwall nach sich ziehen – die Möglichkeit der Entgleisung ist immer gegeben. Und vermutlich notwendig.
Moderation is the hardest task – the only thing that follows abundance is more abundance – Mäßigung ist die schwierigste Aufgabe, das Einzige, was auf Überfluss folgt, ist noch mehr Überfluss. »You are dry and soft. What am I?«, sagt sie. Es ist ein endloses Gespräch – anwendbar auf alle Anwesenden und Abwesenden. Contraposto. Standbein, Spielbein, Kontrolle, Kontrollabgabe, Believe and Let-Go. Everything seems to be a matter of balance, im Konsum, im Begehren, in den »Last Words«.
Ich wünsche mir ein Fernglas, mit dem ich in alle Richtungen gleichzeitig schauen kann. Wir tun es, mit »Last Words« an dieser Bar sitzend, auf der niemals alles in Dreiecksform angeordnet werden kann – das Sehnen nach Auflösung bleibt unerfüllt.
Am Tresen erzählt sie mir, dass sie neuerdings eine Vorliebe für die Farbe Rot entwickelt hat, und ich antworte, indem ich ihr einen Fun Fact erzähle, der mich kürzlich erreicht hat: Der Mensch kann über 400 Grüntöne voneinander unterscheiden, aber nur gut 40 Rottöne. Der Grund dafür ist ein archaischer: Im Grün der Gräser und Wälder sollte man sowohl potenzielle Angreifer*innen erkennen können als auch potenzielle Nahrung.
Rot ist eine wenig archaische Farbe, in dieser Hinsicht. Sie symbolisiert den Beginn der Kultur. Oder? Sind die Gewänder der Figuren, die auf den antiken Vasen dargestellt sind, nicht meistens rot? Ich lerne: Sammler*innen sammelten nicht nur, sie züchteten auch. Sie akkumulierten nicht nur, sie gestalteten auch.
Schon immer war ich fasziniert von der Idee des »Beten ohne Unterlass«. Das Gebet, das man als Subjekt in Gang setzt und sich dann verselbstständigen lässt – ein bisschen so wie das mit einem gelungenen Kunstwerk der Fall ist. »You should not be looking for god«, schreibt Simone Weil – und gleichzeitig muss man die Tür öffnen für den Glauben.
»Humor is a rotating door in all directions«, sagt sie, am Tresen sitzend, die roten Servietten in Form eines Dreiecks verschiebend. Auch wir befinden uns dreiecksförmig zum Shaker: Kein Zufall, weiß ich jetzt. Und dann wiederholt sie: »Ich hätte gern ein Fernglas, mit dem ich in alle Richtungen gleichzeitig schauen kann.« Und ich denke: »Becoming is about repetition.«
Und wir bestellen einen weiteren »Last Word«, einen Zaubertrank, denn er ist nie der letzte.
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