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In drei Wahlkreisen sind Kleine groß
Siege in Potsdam, Bernau und Strausberg könnten Grünen, Freien Wählern und Linke den Wiedereinzug in Brandenburgs Landtag sichern
Es gibt neue Umfragen zur Brandenburger Landtagswahl am 22. September. Die Zahlen des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap und der Forschungsgruppe Wahlen weichen im Detail voneinander ab, zeigen aber Tendenzen: Bei der SPD zieht wieder die alte Strategie, voll auf ihren populären Ministerpräsidenten zu setzen. Das klappte einst schon mit Matthias Platzeck und scheint nun einmal mehr mit Dietmar Woidke zu funktionieren. In beiden Umfragen verbesserte sich die SPD auf 26 Prozent und ist damit auf ein bis drei Prozentpunkte an die immer noch führende AfD herangerückt.
Die CDU fällt derweil auf 15 bis 16 Prozent zurück. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das zwischenzeitlich schon bei 17 Prozent stand, könnte nun aus dem Stand immerhin noch 13 bis 14 Prozent schaffen. Die Forschungsgruppe Wahlen sieht die Grünen bei 5 Prozent sowie Freie Wähler und Linke bei je 3 Prozent. Infratest dimap sieht Die Linke bei 4 Prozent und die Grünen und die Freien Wähler bei je 4,5 Prozent. Alle drei müssen fürchten, den Wiedereinzug ins Parlament zu verpassen.
Angesichts dieser Lage wird für diese drei kleinen Parteien eine Brandenburger Sonderregelung immer interessanter: Wer hier bei der Landtagswahl mindestens einen der 44 Wahlkreise gewinnen kann, für den ist die Fünf-Prozent-Hürde ausgeschaltet. Es gibt auch tatsächlich je einen Wahlkreis, der für Grüne, Linke und Freie Wähler der Rettungsanker werden könnte.
Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost.
Von der Papierform her hat Péter Vida (Freie Wähler) die besten Aussichten, seinen aus der Stadt Bernau und der Gemeinde Panketal bestehenden Wahlkreis nach 2019 ein zweites Mal zu gewinnen. 2014 hatte die Ein-Wahlkreis-Regel das erste und bisher einzige Mal in der Geschichte Brandenburgs gegriffen. Damals hatte der von der SPD zu den Freien Wählern gewechselte Landtagsabgeordnete Christoph Schulze seinen Wahlkreis gewonnen und so zwei weitere Abgeordnete der Freien Wähler mit sich ins Parlament gezogen. 2019 übersprangen die Freien Wähler die Fünf-Prozent-Hürde und waren auf einen Wahlkreis nicht angewiesen. Der Abgeordnete Vida gewann aber damals schon den Wahlkreis, in dem er jetzt wieder antritt. Eine Umfrage verspricht ihm diesmal 28,6 Prozent der Erststimmen, die für den Direktkandidaten im Wahlkreis abgegeben werden. Damit läge er 4,5 Prozentpunkte vor Steffen John (AfD) und noch viel deutlicher vor allen anderen Mitbewerbern.
Sehr schwer dürfte es Marie Schäffer (Grüne) haben. Sie gewann 2019 einen der Wahlkreise in der Stadt Potsdam. Nie zuvor hatten Brandenburgs Grüne einen Landtagswahlkreis geholt. Aber 2019 schwammen sie auf einer Welle der Klimaschutzbewegung Fridays for Future, die inzwischen abebbte. Sie erreichten landesweit ein Rekordergebnis von 10,8 Prozent. Angesichts eines nun gegenläufigen Trends wird es für Marie Schäffer in ihrem Wahlkreis diesmal wohl eng werden. Favoritin ist hier Kulturministerin Manja Schüle (SPD).
Ganz schwer einzuschätzen sind die Chancen von Kerstin Kaiser (Linke) in Strausberg, Petershagen-Eggersdorf und Rüdersdorf. Sie hatte den dortigen Wahlkreis seit 1999 viermal in Folge gewonnen. Bei der Landtagswahl 2019 war sie gar nicht im Lande, sondern leitete das Moskauer Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung. 2022 kehrte Kaiser zurück und sieht für sich ein »Möglichkeitsfenster«, wenn sie unter anderem viele Erststimmen von Menschen erhält, die mit ihrer Zweitstimme das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ankreuzen oder wegen Ministerpräsident Woidke die SPD wählen.
Fest steht: Wenn Péter Vida, Marie Schäffer und Kerstin Kaiser sich in ihren jeweiligen Wahlkreisen durchsetzen wollen, brauchen sie jede Unterstützung, die sie bekommen können. Eine Idee drängt sich förmlich auf: Da es für Freie Wähler, Grüne und Linke um alles geht, könnten diese drei Parteien doch miteinander vereinbaren, ihre jeweiligen Anhänger dazu aufzurufen, Vida, Schäffer beziehungsweise Kaiser die Erststimme zu geben. Es wäre ein Geben und Nehmen, das allen Beteiligten hilft, wenn es das letzte Quentchen an Erststimmen einbringt, das noch fehlt. Mit diesem Gedanken hat der Linke-Landesvorsitzende Sebastian Walter auch schon gespielt und bei den Grünen und den Freien Wählern mal vorgefühlt, was eventuell machbar wäre. Weit ist er damit aber nicht gekommen.
Es gibt auch Gesichtspunkte, die gegen so eine Allianz sprechen. So könnte öffentliche Unterstützung durch die Grünen einem Direktkandidaten sogar zum Nachteil gereichen, weil die Stimmung in der Bevölkerung eher gegen diese Partei ist, die im Bund und im Land mitregiert.
Unterdessen erlebt Péter Vida im Haustürwahlkampf in Bernau, wie Menschen von sich aus taktisch wählen wollen. Bernau gilt nicht nur als Hochburg der Freien Wähler. Hier ist auch Die Linke besser aufgestellt als im Landesdurchschnitt. Sie stellt mit André Stahl den Bürgermeister. Vida hört an den Türen immer wieder, dass Wähler ihre Zweitstimme der Linken geben wollen. Doch die Erststimme versprechen sie ihm, weil sie glauben, dass er am ehesten den AfD-Kandidaten John besiegen könne. Linke-Kandidat Matthias Holz liegt mit 6,5 Prozent weit zurück. »Ich bitte alle Bürger von Bernau und Panketal – unabhängig von ihrer Parteipräferenz – um ihre Erststimmen«, sagt Vida. »Nur so verhindern wir, dass dieser Wahlkreis an die AfD fällt.«
Taktisch zu wählen, hat sich auch Lutz Boede entschieden. Er ist das Urgestein der linksalternativen Wählergruppe Die Andere in Potsdam, die bei der Kommunalwahl am 9. Juni 10 Prozent der Stimmen einfuhr. Bei Landtags- oder Bundestagswahlen tritt diese Wählergruppe jedoch nicht an. »Bei den Landtagswahlen geht es mir vorangig darum, die AfD und andere Nazis möglichst kleinzuhalten«, erläutert Lutz Boede seinen Plan. Wenn Die Linke unter 5 Prozent fallen würde und keinen Wahlkreis gewinnen könnte, würden die für diese Partei abgegebenen Stimmen unter den Tisch fallen und die Mandate auf die anderen Parteien verteilt werden – auch an die AfD. »Deshalb wähle ich mit der Zweitstimme Die Linke, um auf jeden Fall abzusichern, dass sie im Landtag vertreten ist und kein Mandat zusätzlich an die AfD fällt«, erklärt Boede via Facebook-Eintrag und macht damit in gewisser Hinsicht Werbung, es ihm gleichzutun. »Außerdem halte ich Die Linke auch für wichtig, damit es überhaupt noch eine Opposition im Landtag gibt«, sagt er.
Bedeutsam ist weiterhin, dass der Stadtverordnete und ehemalige Landtagsabgeordnete Hans-Jürgen Scharfenberg zu Jahresbeginn aus der Linken ausgetreten ist. Für die Kommunalwahl am 9. Juni stellte er ein BSW-nahes Bündnis auf die Beine und bekam wieder viele Stimmen. Zur Landtagswahl tritt der mittlerweile 70-Jährige aber nicht an, und das BSW stellte überhaupt keine Direktkandidaten in den Wahlkreisen auf, sondern nur eine Landesliste, die mit der Zweitstimme gewählt werden kann. Die spannende Frage ist: Was fangen die BSW-Anhänger mit ihren Erststimmen an? Diese Frage stellt sich überall in Brandenburg.
Die Landtagsabgeordnete Isabelle Vandré (Linke) steht auf Listehplatz drei und tritt in Potsdam als Direktkandidatin an – gegen Marie Schäffer von den Grünen. »Das Wichtigste ist, dass Die Linke über fünf Prozent kommt. Dafür brauchen wir jede Zweitstimme«, sagt Vandré. »Aber natürlich kämpfe ich auch um jede Erststimme.«
An diesem Samstag gibt es ab 17 Uhr auf dem Johannes-Kepler-Platz von Potsdam eine Veranstaltung »Wütend auf den Kapitalismus?!« von Regisseur Volker Lösch und mit der Abgeordneten Vandré und dem Sänger Sebastian Krumbiegel.
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