Werbung

Neukölln-Prozess: In Fragegewittern

Zweiter Verhandlungstag im Neukölln-Komplex-Prozess

  • Darius Ossami
  • Lesedauer: 4 Min.
Sebastian T. und Tilo P. verdecken zum Prozessauftakt ihre Gesichter.
Sebastian T. und Tilo P. verdecken zum Prozessauftakt ihre Gesichter.

Zweiter Tag der Berufungsverhandlung gegen die Neonazis Sebastian T. und Tilo P. aus Neukölln: Vor dem Berliner Landgericht sitzen die beiden mit ihren drei Anwälten, im Publikum sitzen diesmal nur wenige Interessierte. Tilo P. trägt kurze graue Haare mit Bart und Brille, ein kariertes Hemd und gibt sich betont locker und aufgeräumt. Der hagere Sebastian T. hat kurze dunkle Haare, einen dünnen Bart und eine runde Brille. Er trägt Kapuzenpulli und verfolgt das Geschehen regungslos, aber konzentriert.

Die beiden Beschuldigten im Alter von 38 und 41 Jahren wurden im ersten Prozess lediglich wegen Sachbeschädigung und im Falle des älteren T. wegen Betruges verurteilt – er hatte zu Unrecht Geld vom Jobcenter und Coronahilfen bezogen. Sie hatten in Berlin Schmierereien und Aufkleber zum Gedenken an den Nationalsozialisten Rudolf Heß mitsamt SS-Runen angebracht. Sebastian T. musste für eineinhalb Jahre in Haft, bei Tilo P. blieb es lediglich bei einer Geldstrafe.

Muckefuck: morgens, ungefiltert, links

nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss.

Eigentlich waren zuvor ungleich schwerwiegendere Vorwürfe verhandelt worden: P. und T. sollen für eine Anschlagsserie verantwortlich sein, die seit 2016 Neukölln erschütterte, so die Anklage. Unter anderem wurde ihnen vorgeworfen, für die Brandstiftung am Auto des Linke-Abgeordneten Ferat Koçak verantwortlich zu sein, die nur mit Glück nicht auf sein Elternhaus übergriff. Da die Generalstaatsanwaltschaft vergangenes Jahr Berufung eingelegt hatte, wird der Prozess nun neu aufgerollt.

Geladen sind zunächst drei Zeug*innen der Polizei: Einer der beiden Verteidiger des Neonazis T., Gregor Samimi, versucht, den Zeugen W. vom Berliner Landeskriminalamt mit verschachtelt gestellten Fragen zu verwirren, bis dieser schließlich unwirsch reagiert. Seine Strategie ist offenbar, Zweifel am Erinnerungsvermögen des Zeugen zu schüren. Seine Lieblingsfrage lautet: »Wie schätzen Sie ihr Erinnerungsvermögen auf einer Skala von 10 bis 100 ein?«

Diese Frage stellt Samimi auch Frau Sch., 35 Jahre. Ihr Arbeitsauftrag als Sachbearbeiterin beim Berliner LKA war zu prüfen, ob T. unrechtmäßig Coronahilfen beantragt hatte. Sch. berichtet, wie sie dafür Hinweise gefunden und ein Verfahren wegen Subventionsbetrug eingeleitet hat. Während die Richterin und die Staatsanwaltschaft kaum Fragen an die Zeugin haben, versucht Samimi auch hier, die Glaubwürdigkeit der Befragten infrage zu stellen.

Als dritte Zeugin wird die 37-jährige Susann H. aufgerufen. Es geht von Komplex B, Sozialleistungsbetrug, zu Komplex E, Sachbeschädigung. Die Polizistin H. war Teil der Ermittlungsgruppe, die nach den Brandanschlägen auf den Linke-Abgeordneten Ferat Koçak und den Buchhändler Heinz Ostermann gebildet wurde. Als Sachbearbeiterin begleitete sie das Observationsteam, lief am nächsten Tag die Route ab und dokumentierte die dort hinterlassenen Aufkleber. Weiter kann sie sich kaum erinnern, es geht um einen Vorgang vor sieben Jahren. In der folgenden Befragung versuchen die Verteidiger, den durch die Aufkleber verursachten Schaden zu entwerten und den Vorwurf der Volksverhetzung zu entkräften. Mit vorsichtigen Worten versucht die Vorsitzende Richterin, die Befragung zu kappen. Auch die beiden Vertreter*innen der Generalstaatsanwaltschaft belassen es bei wenigen Einwänden. Anscheinend will niemand das Betriebsklima stören.

Carsten Schank, der Anwalt von Sebastian T., gibt vor, nicht genau zu wissen, ob sich die Naziaufmärsche für Heß in Wunstorf oder Wunsiedel ereigneten. Dabei müsste er es besser wissen, denn er gilt als Nazi-Anwalt: Einem Bericht des linken Szeneportals Indymedia zufolge soll er vor Sebastian T. bereits den ehemaligen Berliner NPD-Vorsitzenden Sebastian Schmidtke, die NPD-Bundesspitze, die Nazikneipe »Zum Henker« und weitere rechtsextreme Schläger verteidigt haben. Auch soll er Holocaustleugner Horst Mahler bei einem Aufruf unterstützt haben. Der Anwalt von Tilo P., Mirko Röder, setzt ganz auf seine optische Präsenz und stimmt mal der Verteidigung, mal der Staatsanwaltschaft zu. Aber auch er hatte vor 20 Jahren Holocaustleugner Horst Mahler verteidigt.

Sein Mandant sei unschuldig, sagte Röder bereits zum Prozessauftakt vor zwei Jahren. Tatsächlich konnte beiden Angeklagten der Brandanschlag nicht nachgewiesen werden. Die Hauptverhandlung mit insgesamt 14 Verhandlungstagen soll am 28. November enden. Parallel zum Gerichtsverfahren wird das Versagen der Behörden im sogenannten Neukölln-Komplex auch in Verbindung mit mehr als 70 anderen rechten Straftaten, Anschlägen und möglicherweise Morden von einem Untersuchungsausschuss im Abgeordnetenhaus bearbeitet.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.