Die Vertannung der Palme

Deutsche Heldensagen: Otto Jägersbergs neuer Prosaband »Abendblätter«

  • Frank Schäfer
  • Lesedauer: 4 Min.
ich mach mir meine Palmen selbst, wie hier der Künstler Onno Poiesz in der Völklinger Hütte bei der Urban Art Biennale 2024.
ich mach mir meine Palmen selbst, wie hier der Künstler Onno Poiesz in der Völklinger Hütte bei der Urban Art Biennale 2024.

Gleich der erste Text rechtfertigt die Vorfreude auf Otto Jägersbergs neue Prosasammlung »Abendblätter«. »Amerikaner applaudieren, wenn die Sonne untergeht. Das macht sie sympathisch gegenüber denjenigen, die einen Sonnenuntergang hinnehmen wie ein Spiegelei.«

Da sitzt doch alles. Die Sprache überhöht den Gedanken nicht mehr als nötig. Die fast schon rührend naive Würdigung eines gewöhnlichen Naturschauspiels stellt er der Alltagsblödigkeit der anderen gegenüber, die er mit einer hübschen Metapher, tja, in die Pfanne haut. Und dass es hier ausgerechnet Amerikaner sein sollen, die noch zu solchen Regungen fähig sind, lädt zudem noch einmal dazu ein, das eigene Stereotypenpäckchen zu überdenken. Mehr kann man von zwei Sätzen eigentlich nicht verlangen.

Wie schon in seinen letzten drei Prosabüchern erspart sich Jägersberg die zusätzliche Bedeutungshuberei mit der Überschrift und zählt seine Notate einfach durch. Vielleicht am ehesten vergleichbar mit Lichtenbergs »Sudelbüchern«, versammelt er hier wieder ganz unterschiedliche Formate: Aphorismen, Erinnerungsschnipsel, Anekdoten, Alltagsskizzen, Kurzporträts, Mini-Essays und Meditationen. Nicht selten sind sie komisch, nicht immer weiß man sofort warum, und genauso oft ist ihnen eine Melancholie beigemischt, die diese Stücke zusätzlich in Schwingung versetzt. Etwa wenn er die Besitzwechsel seines Buchs »Deutsche Heldensagen« nachzeichnet. Sein Bruder bekommt es 1938 von Onkel Hans geschenkt, Jägersberg übernimmt den Band, »als Bruder Rolf nach Kanada auswanderte«. Danach verleibt es ein anderer Verwandter seiner Sammlung ein, bis es wieder bei ihm landet. Erst am Ende wird klar, warum ihm das so wichtig ist. »Rolf Jägersberg starb in diesen Tagen in einem Pflegeheim in Big Bend, Wisconsin.« Münster, Kanada, Wisconsin – es steckt vielleicht noch eine weitere deutsche Heldensage in diesem Buch.

Jägersberg nähert sich der Welt mit zärtlichem Stoizismus, der sich zwar immer noch von ihr überraschen und rühren lassen kann, aber eben nicht mehr wirklich schockieren. Und er hat dafür einen lakonisch-knorrigen Tonfall gefunden, der die syntaktische Verknappung paart mit der Geste des Lapidaren. Seine Sätze sind oft elliptisch, beinahe stenogrammartig. Er spart sich Artikel, Pronomen, mitunter sogar Subjekt oder Prädikat. Sein Vokabular ist sachgemäß, soigniert, man merkt dieser Prosa jederzeit an, dass sie auf einer wohlsortierten Bibliothek fußt, aber Jägersberg vertreibt eben auch regelmäßig das allzu Überfeinerte, Versnobte mit einer zupackenden Wendung aus dem Dialektalen oder Umgangssprachlichen. »Aus dem Gränzboten, Horb. Immobilienhändler wird erwürgt. Mörder vermutet sackweise Krügerrand beim Opfer und durchsucht dessen Wohnung. Findet nur 3000 Euro. Wo sind die Goldmünzen? Vor dem Haus liegt nach schwäbischer Sitte ein Misthaufen, den der Mörder umzugraben beginnt. Nachbarn werden munter. Den Umgraber kennen sie nicht. Verdächtig. Informieren die Polizei. Polizei kommt und verhaftet Mörder und so weiter am Neckar im Grenzboten. Heidenei.«

Mit der Abgebrühtheit und Coolness des Alten, der schon einiges gesehen hat von der Welt, observiert er noch einmal seine Umgebung und erkennt mit scharfem Blick den kleinen Riss in der Oberfläche. Ein Ansatz für den Fingernagel, um ein großes Stück Tapete herunterzureißen und die üblen Schimmelflecken freizulegen – oder auch nur die Tagesstriche vom Vormieter.

»Vertannung der Palme. Florentiner Berg, Baden-Baden. Vor meinem Schlafzimmerfenster. Zwei Gärtner in Alarmwesten verhüllen den Stamm der Palme mit Tannenzweigen. Es wird kälter. Ich liege noch im Bett und schaue den Männern zu. Gar nicht so einfach, bis die Tannenzweige haften. Weihnachten ist auch in der Nähe.«

Und wie! Unter Palmen beginnt die christliche Religionsgeschichte und landet schließlich im europäischen Tannenwald. Dass die Gärtner »Alarmwesten« tragen, hat sicher auch etwas zu bedeuten.

Otto Jägersberg: Abendblätter. Diogenes, 173 S., geb., 25 €.

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