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Rad-WM in Zürich: Etappensieg für die Inklusion
Bei der Rad-WM in Zürich fahren Athleten mit und ohne Behinderung über dieselbe Ziellinie
Es ist ein wahres Technikfestival, das da gerade in der Schweiz stattfindet. Neben im Windkanal optimierten Zeitfahr- und Straßenrädern gibt es in und um Zürich derzeit ein ganzes Sortiment an Handbikes, Dreirädern und Tandems zu bestaunen. Anlass dafür sind die gemeinsamen Titelwettkämpfe von Menschen mit und ohne Behinderung. Schon bei der letzten WM in Glasgow war das der Fall, als erstmals auch Bahn- und Straßenwettbewerbe gemeinsam stattfanden. In Schottland allerdings fuhren die Männer und Frauen mit Behinderung noch auf anderen Strecken als jene ohne Behinderung.
Jetzt ist die Ziellinie für alle Rennen am Sechsläuteplatz in Zürich installiert. Und auch manche Streckenabschnitte sind identisch. Die Einzelzeitfahren einiger Para-Klassen der Männer und Frauen auf Zweirädern werden auf dem Kurs des Zeitfahrens der Frauenelite ausgetragen. Die Para-Straßenrennen nutzen denselben Rundkurs, den auch der slowenische Toursieger Tadej Pogačar und Olympiasieger Remco Evenepoel aus Belgien am Sonntag abfahren werden – die beiden WM-Favoriten und ihre Profikollegen allerdings mit wesentlich längerem Anlauf.
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Die Nähe zu den großen Stars der Szene erfreut viele Para-Athleten. »Dieselbe Ziellinie wie alle Radsportler zu überqueren, ist ein wichtiger Schritt zur Inklusion«, sagte der Handbiker Fabian Recher Schweizer Medien. Recher ist neben Nationalheld Fabian Cancellara und Zeitfahr-Ass Stefan Küng einer der Botschafter der Heim-WM. Der 25-Jährige hat von Geburt an eine Fehlbildung der Wirbelsäule. Vom Sport hielt ihn das nicht ab. Am Fahren mit dem Handbike, einem Rad, das mit den Armen über Kurbeln vorwärts bewegt wird, liebt er die Geschwindigkeit. »Es ermöglicht mir auch, größere Distanzen in meiner hügeligen Heimat zurückzulegen und mit meiner Familie Radtouren zu unternehmen«, betont er.
Beim paralympischen Straßenrennen in Paris stieß er mit dem amtierenden Weltmeister Jonas Van de Steene zusammen und verpasste deshalb eine Medaille. Den Belgier erwischte es dabei noch übler. Sein Handbike im Wert von 25 000 Euro ging bei dem Crash kaputt. Die Versicherung zahlt bei Schäden während des Wettkampfes nicht. Und Van de Steene war schon in Paris skeptisch, dass er in Zürich überhaupt antreten kann. Sein Handbike ist mittlerweile zwar weitgehend geflickt, allerdings noch nicht in allerbestem Zustand, schrieb das belgische Sportmedium »Sporza«. Nachfolgen des Sturzes sowie eine Covid-Infektion verhindern aber das Projekt Titelverteidigung. Und das Beispiel der unvollendeten Reparatur des Sportgeräts illustriert auch die großen Wettbewerbsunterschiede, die es zwischen dem Profisport von Menschen ohne Einschränkung und dem Parasport immer noch gibt.
Nicht beirren ließ sich von solchen und ähnlichen Malaisen in seiner mittlerweile mehr als vier Jahrzehnte umfassenden Karriere der Schweizer Handbiker Heinz Frei. Er ist einer der erfolgreichsten Para-Sportler überhaupt mit insgesamt 35 Olympiamedaillen, 15 davon goldene. Mit seinen 66 Jahren nimmt er erneut an der WM teil – die allerdings laut eigener Ankündigung seine letzte sein soll. Der passionierte Sportler stürzte als 20-Jähriger bei der Streckenbesichtigung für einen Berglauf ab. Er wurde mit einem Hubschrauber geborgen und im Krankenhaus operiert. Die Diagnose Querschnittslähmung schockierte ihn. »Ich habe zwei Jahre gebraucht, bis ich die Veränderung einigermaßen verarbeitet hatte«, blickt er zurück. Danach allerdings setzte er zu einer einmaligen Sportkarriere an.
Er war 1984 beim Zürich Marathon dabei, als dort erstmals Rollstuhlfahrer zugelassen waren. Er siegte und war mit seinem Gefährt schneller als der schnellste Läufer. Als die Frage auftauchte, ob nicht ihm dann auch das Preisgeld von 5000 Franken zustehe, lehnte er ab. »Es wäre unfair gewesen. Ich konnte bergab ja rollen und mich erholen«, meinte er. Auch seine Schnelligkeit führte dazu, dass Rollstuhlfahrer eine eigene Kategorie bekamen. Nach dem Straßenrennen am Samstag – seinem letzten Wettkampf im Radsport, wie er ankündigte – fliegt er übrigens nach Berlin, um dort am Marathon teilzunehmen.
Para-Athleten sind eben vielseitig. Und viele haben auch dramatische Geschichten zu erzählen. Der Palästinenser Alaa al-Dali verlor 2018 beim sogenannten »Marsch der Rückkehr« von Tausenden an der Grenze von Gaza sein linkes Bein, weil ihn ein israelischer Scharfschütze erwischte. Al-Dali hatte sich damals als Radsportler für die kommenden Asienspiele qualifiziert. Zum Invaliden gemacht, gründete er das Team Gaza Sunbirds.
Das organisierte bis zum Beginn des Krieges in Gaza nicht nur Training für Para-Sportler, sondern verteilt auch Hilfsgüter. Die Paralympics in Paris verpasste er – auch deshalb, weil er aufgrund von Reisebeschränkungen nicht genug Punkte für die Qualifikation sammeln konnte. Jetzt steht er beim WM-Straßenrennen am Freitag in der Klasse C3 vor seiner sportlich größten Bewährungsprobe. Die Bewährungsproben im Leben waren freilich viel anspruchsvoller.
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