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Ein Turm für Mondsüchtige
Die erste »Irrenanstalt« der Welt stand in Wien. Sie hat die moderne Psychiatrie geprägt
Wien nach dem Hochwasser, unterwegs im neunten Gemeindebezirk. Es fehlt der übliche touristische Trubel, der sich zu allen Jahreszeiten im Dreivierteltakt durch das Zentrum der Stadt bewegt. Doch auch hier erhebt sich ein eindrucksvolles Bauwerk: ein kreisrunder, fünfgeschossiger Turm mit meterdicken Mauern. 1784 unter Kaiser Joseph II. erbaut, war hier einst das weltweit erste psychiatrische Krankenhaus untergebracht.
»Ursprünglich war es die k.-u.-k.-Irrenanstalt zu Wien, und dann hieß es relativ bald der Irrenturm.« Eduard Winter ist Leiter des größten pathologischen Museums der Alpenrepublik, das seit 1971 im Narrenturm untergebracht ist. Winter führt durch den ungewöhnlichen Bau, ein mächtiges klassizistisches Unikum. Was sofort auffällt: Von außen sieht der Rundturm durch seine Form ungemein modern aus. Gleichzeitig erscheint er wie ein Gefängnis oder wie eine uneinnehmbare Burg.
Mehr Männer als Frauen
Der Ort war zur Behandlung psychisch kranker Menschen gedacht, die aus allen gesellschaftlichen Schichten hierherkamen und ganz unterschiedliche geistig-seelische Leiden hatten. »Etwa 53 Prozent aller Patienten waren männlich. Es dürfte einige Stressoren in der damaligen Zeit gegeben haben, die Männer überproportional belastet haben«, resümiert der Wiener Humanmediziner Daniel Vitecek.
Der wissenschaftliche Experte hat herausgefunden, dass sich die Geschlechterverhältnisse in den medizinischen Diagnosen widerspiegelten: »Biologisch war das vor allem die Geschlechtskrankheit Syphilis, die bei Männern häufig zu neuropsychiatrischen Symptomen und später dann oft zum Tod geführt hat.«
Als die kaiserlich und königliche Irrenanstalt gebaut wurde, stand sie ganz im Zeichen des Fortschritts der Monarchie. 1784 eingeweiht, war es das erste Krankenhaus dieser Art. Mehr als acht Jahrzehnte existierte die Einrichtung. Danach stand das Gebäude bis 1920 leer. Einige Zeit lang wurde der Turm als Wohnheim für Krankenschwestern und Ärztewohnungen genutzt, als Depot für Universitätskliniken und Werkstätten. Heute beherbergt das Gebäude eine einzigartige medizinische Sammlung. Und die hat es in sich. Der Obduktionsbericht Ludwig van Beethovens, dessen Tod bis heute Rätsel aufgibt, kann genauso bestaunt werden wie Knochen und Organe – insgesamt die weltweit größte und ältesten Sammlung an pathologisch-anatomischen Präparaten. 50 000 Objekte sollen es sein – alle zur Dokumentation und Erforschung von Krankheiten: darunter in Spiritus eingelegte Leichenteile oder Wachsnachbildungen erkrankter Körperteile. Nichts für schwache Nerven, von einem Besuch mit kleinen Kindern unter 14 Jahren wird deshalb abgeraten. mic
Auch bei Frauen habe es geschlechtsspezifische Diagnosen gegeben, erzählt Vitecek. »Puerperalmanie zum Beispiel, also psychische Erkrankungen, die rund um die Geburt auftraten.« Das ist mit den heutigen postpartalen Depressionen oder postpartalen Psychosen vergleichbar. Auch die Melancholie, also die Vorläuferdiagnose der heutigen Depression, war überwiegend weiblich geprägt.
Die Patientinnen und Patienten lebten in kleinen Zellen mit schweren Holztüren. 28 Räume pro Stockwerk, eine Zahl, die nicht zufällig gewählt wurde. Denn in 28 Tagen umkreist der Mond die Erde. Das Wort »Mondsüchtige« für psychisch Kranke stammt aus dieser Zeit. Dementsprechend gab es die Theorie, dass die 28 Zimmer im runden Narrenturm einen Mondkalender darstellen sollten, um die Patienten »quasi durchs Gebäude mitzubehandeln«. Beweise dafür gibt es keine. Belegt ist jedoch, dass der Narrenturm an einem Vollmondtag eröffnet wurde, den 19. April 1784. Es gab sogar ein Handbillet – heute würde man wohl Flyer dazu sagen. Darauf steht, dass der Kaiser offiziell zur Einweihung der Irrenanstalt einlädt.
Viersäftelehre und Voyeurismus
Im Narrenturm versuchte man, die Patienten zu isolieren und gleichzeitig zu heilen – mit Methoden, die heute Kopfschütteln verursachen: Psychosen und Neurosen wurden mit Aderlass, Schröpfen, Brech- oder Kaltwasserkuren behandelt. Die Viersäftelehre war das herrschende Medizinmodell in Europa. Ärzte gingen davon aus, dass die Gesundheit des Menschen vom ausgewogenen Verhältnis seiner vier Körpersäfte abhängig sei. Dazu zählten sie Blut, Schleim aus dem Gehirn, Gelbgalle aus der Leber und Schwarzgalle aus der Milz, die jeweils für eigene Temperamente stehen sollten. Kommt es zu einem Ungleichgewicht, so die Annahme, erwachsen daraus Krankheiten. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds oder Psychopharmaka waren noch in weiter Ferne.
Dafür standen Voyeurismus und Sensationslust auch vor über 200 Jahren an der Tagesordnung. Im obersten Stockwerk waren die »Wütenden und Tobenden« untergebracht, wie es damals hieß, erklärt Eduard Winter. Je schwerer die Fälle und je lauter die Patienten waren, desto weiter hinauf kamen sie, damit sie, wenn sie schrien, nicht den ganzen Turm störten. Dagegen hatte man im Erdgeschoss meistens Melancholiker untergebracht. Aber die seien nicht so interessant für die Schaulustigen gewesen, so Winter. »Am Wochenende sind viele Wienerinnen und Wiener Narren anschauen gegangen, waren aber enttäuscht, wenn niemand in seiner Zelle tobte.« Die Schaulustigen sind teilweise an der Fassade hinaufgeklettert, um zu sehen, was oben los ist. Um das zu verhindern, hat man die untersten Mauerstockwerke nachträglich verputzt.
Wenn sich niemand von den Patienten blicken ließ, riefen die Sensationsgierigen Beleidigungen und hofften, die Patienten damit zu ärgern. Deshalb hat man ein paar Jahre nach der Eröffnung sogar eine dreieinhalb Meter hohe Mauer um den Turm errichtet – zum Schutz der Patienten, damit sie nicht belästigt wurden.
Der Narrenturm ist Ausdruck einer Umbruchphase in der Medizin, in der Aberglaube und aufkommende Wissenschaftlichkeit eng miteinander verflochten waren. Der Rundbau sollte eine Modernität ausdrücken, gleichzeitig orientierte er sich an der Astrologie. Das Menschenbild, das dem Narrenturm zugrunde lag, war teilweise medizinisch-rational. Die Ärzte der damaligen Zeit glaubten, psychische Krankheiten erkennen und heilen zu können. Gleichzeitig verkörperte die Einrichtung die Ordnungsidee von Kaiser Josef II. Der wollte seinen Staat modernisieren, so Vitecek. Sein Ziel: gesunde Bürger, die arbeitsam waren und beim Militär dienen sollten. Die unheilbar psychisch Kranken wurden aus der Gesellschaft entfernt. Das Krankenhaus war auch eine Verwahranstalt, bis es 1869 geschlossen wurde, weil die Behandlungsmethoden als überholt galten.
Symbol des Überwundenen
Bis heute ranken sich um den Narrenturm wilde Spekulationen, sagt Museumsleiter Eduard Winter. So habe sich Kaiser Joseph II. auf die Spitze des Turms ein achteckiges Zimmer bauen lassen, in dem er sich regelmäßig aufgehalten habe, das aber heute nicht mehr existiert. Eine Sternwarte soll dort gewesen sein, eine Loge der Freimaurer, zu denen der Kaiser ein enges Verhältnis hatte. Auch sei die runde Gebäudeform des Narrenturms nach freimaurerischen Grundsätzen errichtet worden.
Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Patienten betrug etwa drei Monate. Dann wurden sie entweder als geheilt entlassen oder waren verstorben. Für viele psychisch Kranke war der Narrenturm die letzte Station in ihrem Leben. Schon bald nach seiner Eröffnung entpuppte sich das Gebäude aber als Fehlplanung. Ursprünglich sollten pro Zelle ein bis zwei Patienten untergebracht werden, aber häufig waren es drei bis vier. Überbelegung war an der Tagesordnung. Und auch architektonisch passte vieles nicht zusammen – vom Heizungs- bis zum Abwassersystem.
Es gab die Theorie, dass die 28 Zimmer im runden Narrenturm einen Mondkalender darstellen.
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Heute gilt der Narrenturm als Symbol für überwundene Zustände. Er stehe für die schlechte alte Zeit, in die niemand zurück will, bilanziert Vitecek. Er sei allerdings ein zweischneidiges Symbol, weil auch die moderne Psychiatrie denselben Herausforderungen gegenübersteht wie die damalige. »Das liegt daran, dass der wissenschaftliche Fortschritt die psychischen Erkrankungen nicht in derselben Weise überwunden hat, wie zum Beispiel die Tuberkulose heilbar ist.«
Insofern symbolisiert das eindrückliche Gebäude das Fortwirken psychischer Erkrankungen. »In der historischen Perspektive kann man sagen, dass der Narrenturm für eine gewisse Geschichtsvergessenheit in der Psychiatrie steht, in der immer alles Schlechte in eine ferne Vergangenheit projiziert wird«, erklärt Vitecek und zieht daraus eine Schlussfolgerung: In 50 Jahren könnte auch die heutige moderne Psychiatrie als hoffnungslos veraltet und unmenschlich angesehen werden. Der Narrenturm sei ein Mahnmal für die Psychiatrie, das darauf hinweist, dass man aus guten Absichten möglicherweise Falsches macht.
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