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Ruhrtalradweg, neu interpretiert
Tour de Ruhr: Der Ruhrtalradweg ist einer der beliebtesten in Deutschland. Unser Autor ist ihn in dreieinhalb Tagen gefahren
Urplötzlich ist der Radweg gesperrt. Also geht es ein Stück des Wegs über eine Schräge wieder zurück, rechts durch ein Gatter und dann über einen holprigen Lehmboden unter der Brücke durch, an der da oben gebaut wird. Wir sind von großblättrigem grünem Uferbewuchs umgeben.
Es ist nicht lang her, dass wir Mühlheim an der Ruhr passiert haben, der Endpunkt des Ruhrtalradweges in Duisburg ist nicht mehr weit. Aber wer hätte gedacht, dass wir jetzt, mitten im Herzen eines der größten Metropolenräume der Republik, auf einer Off-Road-Piste landen, die unser Reisefahrrad zum bockenden Pferd macht?
Es ist nicht die einzige Überraschung, die der rund 250 Kilometer lange Satteltrip bereithält.
Erster Morgen: Die junge Ruhr fließt als schimmernder Film über den Waldweg, um sich in den Wiesen unterhalb des Ruhrkopfes (696 Meter) allmählich zu einem schlängelnden Bach zu entwickeln. Ein paar Meter oberhalb tritt sie im Wald bei Winterberg aus der Erde.
Wir folgen ihr durch das hügelige Hochsauerland, Teil des Rothaargebirges. Nadelwald, abgeholzte Hänge, aufgestapelte Baumstämme am Wegesrand, vorbei auch an der Ruhrquellenhütte mit einer pausierenden Liftanlage im Sommerschlaf. Im Sauerland ist der Wald schön, aber auch Wirtschaftsraum – für die Forstwirtschaft, für den Wintersport.
Doch unsere Tour ist Sommersport. Das Vorhaben: den Ruhrtalradweg in dreieinhalb Tagen schaffen – inklusive Abstechern zu eher unterbelichteten Sehenswürdigkeiten. Angesichts von 70 Kilometern Tagesschnitt und der Steigungen im Land der Bergleute ist es ein Glück, dass wir mit einem E-Bike unterwegs sind.
Vom Energiebedarf wussten auch schon die Fuhrleute. Etwa an der Küsterlandkapelle in Assinghausen beteten sie für »gute Weiterfahrt« und nutzten den Ort über Jahrhunderte als letzte Gelegenheit, um vor den steilen Anstiegen ihre Tiere zu tränken. Heute können an einer Station E-Bikes kostenlos laden. Eine moderne Facette des Kraftortes.
Mit genügend Strom im Speicher geht es zur Plästerlegge, erster Umweg und NRWs einziger Wasserfall. Nach steilem Waldweg Ankunft an einem Sturzbach im Wald bei Bestwig: Rechts oberhalb ergießt sich das Wasser über eine Felskante immerhin 20 Meter in die Tiefe. Schon an der Plästerlegge geht die Bergbaugeschichte los. Denn der Wasserfall wurde einst zum Herabkühlen von aus Erz geschmolzenem Blei genutzt – wie es auch im Bergwerk ins Ramsbeck gefördert wurde, unser nächster Stopp.
»Ich begrüße Sie unter Tage, Glück auf!« Claus Haufe, stramm auf die 80 zugehend, gelernter Metallurge und Guide im Erzbergwerk, begrüßt nach zehnminütiger Fahrt mit der rumpeligen Grubenbahn tief im Berg die Gäste. Seine Mission: Bergwerksgeschichte vermitteln und vom harten Alltag der Bergleute in vorindustriellen Zeiten berichten.
»Der Metallgehalt der Blei- und Zinkerze hier liegt bei vier bis fünf Prozent«, sagt Haufe. »Das war damals zu wenig«. Vor fünfzig Jahren, als das Bergwerk schloss, habe es für eine Tonne Blei oder Zink 210 Mark gegeben, »heute bekommen sie 2100 Euro.« Haufe erwartet, dass sich der Abbau bald wieder lohnt. »Meine Prognose: In zehn, 15 Jahren ist die Grube wieder offen. Sie ist noch nicht ausgebeutet.«
Um beizeiten für die Nacht in Arnsberg anzukommen, gibt es Meschede nur im Vorbeifahren: Eine bundesrepublikanische Fußgängerzone mit reduzierten Schuhen in der Auslage und einer Eisdiele »Cortina« als einziger Menschenansammlung, die alte Ruhrbrücke; der Hennesee bleibt links liegen, Wassersport muss warten.
Weiter wird das Ruhrtal am nächsten Tag mit 80 Radkilometern in den Waden. Ein Blick noch mal auf den frühgotischen Glockenturm, Wahrzeichen Arnsbergs in der höhergelegen Altstadt.
Vor dem Lenker gibt sich der Fluss nun als Refugium. Die Böschung ist von Brombeergestrüpp überwuchert. Am Himmel kreisen Greifvögel, auf einer Kiesinsel in einem Altarm steht ein Reiher.
In der Ruhraue Richtung Wickede, Natura-2000-Gebiet, wohnen auch Wasseramsel, Uferschwalbe und Eisvogel, unter Wasser leben Bachforellen, Hechte und Döbel, sogar Aale, behauptet zumindest eine Infotafel. Die Ruhr, der man hier auf einem ufernahen Pfad folgt, wirkt mit ihren mäandernden Armen und Stromschnellen sehr ursprünglich. Kurios nur, dass vier Meter rechts vom Weg parallel und hörbar die A 46 verläuft – man sieht sie nur nicht, sie liegt auch ein paar Meter höher.
Abstecher Nummer zwei steht an: Iserlohn, wo das nächste Unter-Tage-Erlebnis wartet. Doch diesmal ist alles anders. Standen in Ramsbeck noch Maschinen in den Stollen, zeigen sich Gänge und Hallen der Dechenhöhle im Stadtteil Grüne als ein von der Natur geschaffenes Skulpturenkunstwerk. Guide Julia erzählt die Entdeckungsgeschichte, nach der Bergleuten bei Schienenarbeiten ein Hammer durch einen Felsspalt fiel.
Sie vergrößerten das Loch, ließen sich an einem Strick hinab, fanden sich in einer Tropfsteinhöhle wieder, die laut »Iserlohner Kreisblatt« vom 25. Juni 1868 ein »weit und breit nicht seinesgleichen findendes Naturwunder« ist.
Zurück ans Tageslicht, zurück ins Ruhrtal. Vorbei an gepflügten Äckern, knallgelben Rapsfeldern, Höfen mit Pferden. Der Blick ist weit. Gegenüber oberhalb des Elsebachtals sieht man Schwerte liegen, nächstes Etappenziel auf exakt der Mitte des Ruhrtalradweges.
Bleibe für die Nacht ist direkt am Fluss Haus Villigst am Standort eines mittelalterlichen Rittergutes und heute von der Evangelischen Kirche als Tagungsstätte unterhalten. Die Zimmer im Gästehaus sind modernisiert, aber protestantisch karg, dass ein TV fehlt – Ehrensache!
Das größere Theater am Abend, wenn der Fluss in der Dämmerung verblasst, ist es, sich ans Ufer zu setzen: Es gluckst und plätschert jetzt schon auf 50 Meter Breite, Enten jagen schnatternd hintereinander her. Nach einem fulminanten Vogelkonzert fetzen im Zickzack nur noch lautlos die Fledermäuse umher.
Der Wunsch, die Ruhr zu bezwingen, statt sie nur zu begleiten, kann auf der Tour aufkommen. Und so ist die Verabredung mit Martina und Dirk am Bootsanleger Schwerte am nächsten Morgen ideal: Sie verleihen Kanus und haben ein Paddelboot mitgebracht. »Es ist natürlich eine ganz andere Perspektive vom Wasser aus«, sagt Dirk. Wahre Worte.
Man könnte es als Entrückung bezeichnen. Ist man auf dem Radweg noch geerdet, lässt man auf dem Wasser völlig los, kriegt den Kopf frei. Im Frühjahr kommt es, wie auf dem Abschnitt zwischen Westhofen und Lennemündung vor, dass man für Stunden völlig allein auf dem Fluss ist – bis auf die omnipräsenten Kanadagänse. Motorverkehr und Ausflugsdampfer auf der Ruhr sind erst weiter flussabwärts erlaubt.
Baden in der Ruhr ist größtenteils aber nicht erlaubt: zu tückisch können die Strömungen sein, und die Wasserqualität variiert. Doch zum Beispiel in Essen gibt es die Badestelle »Seaside Beach Baldenaysee«. Von der Beschaulichkeit des Sauerlandes ist man spätestens im Bereich der Stauseen weit entfernt. Der Radverkehr nimmt zu, Tourenfahrer, Alltagsfahrer. Cafés und Bistros am Wegesrand weisen sich als »Radlertreff« aus, andere Schilder mahnen an Bootsanlegern zum Langsamfahren.
Wir unterqueren das Ruhr-Viadukt, Teil der »Route der Industriekultur« und Eisenbahnbrücke. Dann radeln wir entlang alter, schmaler Gleise der alten Muttenthalbahn ins Herz des Ruhrpotts: Zeche Nachtigall im Wittener Stadtteil Bommern. Am dortigen Hettberg liegen Kohleflöze nur wenige Meter unter der Erde – »schon 1714 haben zwei Bauern den Abbau beantragt«, berichtet Miriam Karau, die als Guide die Gäste in den Stollen begleitet.
Ein Gedenkstein auf dem Gelände erinnert an das Jahr 1832, als der erste Schacht »Neptun« abgeteuft wurde, »Nachtigall« ging als die erste Tiefbauzeche im Revier in Betrieb. Heute ist sie Museum, und am alten Steinbruch der Ziegelei, der eine 300 Millionen Jahre alte Erdschichtung offenlegt, darunter ein Flöz, brütet der Uhu, in Nordrhein-Westfalen vor 30 Jahren eigentlich ausgestorben.
Mit der Ruhrtalfähre setzen wir an der Burgruine Hardenstein über, stärken uns mit Currywurst am Imbiss »Königliches Schleusenwärterhaus« (das es mal war), konkurrieren am Kemnader See mit den Rollschuhfahrern, die den See auf einer eigenen Spur umrunden können, und für die Nacht nisten wir uns in einem zum Schlafen ausgebauten Holzfass auf dem Anwesen von Landhaus Grum in Hattingen ein, das wie viele Städte der Gegend mit einer Fachwerk-Altstadt auftrumpft und den »Eisenmännern« des polnischen Bildhauers Zbigniew Poreba: eine Gruppierung von acht Skulpturen vor der Kulisse der 1987 stillgelegten Henrichshütte.
Kurzatmig ist der letzte Tag, der die finalen 65 Kilometer im Sattel bringt, die bis 14.09 Uhr geschafft sein müssen: Es besteht Zugbindung für die Heimfahrt ab Duisburg Hbf. Außerhalb Hattingens, tief im Pott, ist die Ruhr abermals ein Naturidyll mit Schönheitsfehlern: Ruhig und kräuselnd durchfließt sie das Naturschutzgebiet Ruhraue Hattingen-Winz, der Fahrradweg ist mit Gänsekot übersät, die Landschaft mit Strommasten.
Für kurz geht’s in den Stadtverkehr Bochums, danach entlang einer Ferngasleitung; man könnte zu verschiedenen, mittlerweile musealen Zechen abbiegen, Zeche Hannover, Zechen Zollern, doch unser Abstecher Nummer drei führt uns zur Zeche Zollverein, Unesco-Welterbe. Pflichtprogramm.
Das Treffen mit Rudolf Hauke fällt notgedrungen kurz aus. Er war einst im Duisburger Bergwerk Walsum Steiger, also Aufsichtsperson unter Tage, und führt heute Touristen übers Essener Gelände. 1851 wurde dort die erste Kohle aus der Erde geholt, 1250 Meter ging man über die Jahre in die Tiefe, 270 Kilometer Tunnel wurden gegraben. »Schicht im Schacht war 1986«, sagt Hauke.
»Der Unesco-Titel wurde 2001 vergeben und bringt Schutz«, sagt er, »es darf nichts entfernt werden.« 50 Industriefotografen dokumentierten vorab quasi jede Schraube. Und so ist das Welterbe Zollverein die Vorzeige-Zeitkapsel eines sich wandelnden Ruhrgebiets – die allerdings mehrfach für die akademische, touristische und kulturelle Nachnutzung umgebaut wurde.
Allein mit dem Fahrrad zwischen Fördertürmen, Rohr- und Leitungslabyrinthen mit Rostpatina, umwucherten Gleisen, Gasometer-Gerippen und den sechs Schornsteinen der Kokerei umherzufahren, ist ein wahres Erlebnis.
Auf dem Weg nach Duisburg haben wir es eilig und Glück, dass eine Errungenschaft moderner Infrastruktur im Ruhrgebiet schon teils umgesetzt wurde: Schnurstracks voran geht es auf dem längsten Teilstück des bislang gebauten RS1, dem Radschnellweg 1 bis Mühlheim. Ab dort bestreiten wir auf dem Ruhrtalradweg die letzten Kilometer. Und dann die unvorhergesehene Vollsperrung. Buckelpiste, Umherirren, Zeitverlust.
So bleibt ein einziger Wermutstropfen. Wir sehen im Vorbeifahren zwar den Yachthafen und das Bürogebäude Five Boats und gewinnen den Eindruck eines wieder-prosperierenden Duisburgs. Doch zur Mündung der Ruhr in den Rhein schaffen wir es nicht mehr. Die zwölf Minuten Verspätung des ICE nach Hause hätten da auch nicht geholfen. Dafür steht fest: Duisburg werden wir allein für den Blick auf die sich verabschiedende Ruhr noch mal besuchen – vielleicht sogar wieder mit dem Rad.
- Anreise: Mit der Bahn bis Winterberg, ab Dortmund (ICE-Anschluss) fährt die Regionalbahn. Man kann auch in Duisburg starten.
- Unterkunft: Entlang des Ruhrtalradweges gibt es zahlreiche Unterkünfte, von Hotels bis zu Campingplatz und Jugendherberge. Auf Biker eingestellte Betriebe erkennt man am bett+bike-Logo
- Ruhrtalradweg: Die beschilderte Strecke ist 240 Kilometer lang. Von der Quelle bis zur Mündung werden 650 Höhenmeter überwunden, die steilsten Anstiege auf den ersten 35 Kilometern. Der Weg ist überwiegend flussbegleitend, autofrei und führt über Asphalt, aber auch Schotter- und Waldwege. Die Ruhrtalfähre »Hardenstein« verkehrt zwischen April und Oktober. An über 70 Trinkbrunnen und Refill-Stationen kann der Wasservorrat kostenfrei aufgestockt werden. Weitere Infos zu E-Bike-Ladestationen oder Attraktionen am Wegesrand unter www.ruhrtalradweg.de, wo sich auch GPX-Tracks für die Navigation finden.
Vorbei an gepflügten Äckern, knallgelben Rapsfeldern, Höfen mit Pferden.
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