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Geflüchtete in Seenot: Europas Grenzen immer lebensbedrohlicher
Conni Gunsser über die Arbeit bei Alarm Phone und die Zusammenarbeit mit zivilen Rettungsorganisationen
Conni Gunsser ist seit der Gründung 2014 bei Alarm Phone aktiv. Sie macht regelmäßig Schichten in der Gruppe zum zentralen Mittelmeer. Die Rentnerin hat beruflich viele Jahre mit minderjährigen unbegleiteten Geflüchteten gearbeitet. Zum zehnjährigen Jubiläum hat das Netzwerk eine Broschüre über seine Arbeit veröffentlicht.
Am 11. Oktober jährt sich die Gründung des Netzwerks Watch the Med –Alarm Phone zum zehnten Mal. In Ihrer Broschüre zum Jubiläum steht der Slogan »Keine Grenze hält für immer«. Was hat es damit auf sich?
Unser Ziel ist ein Mittelmeerraum der Solidarität, mit offenen Grenzen für alle Menschen. Wir denken, dass die Abschreckungs- und Abschottungsmaßnahmen der Europäischen Union die Menschen nicht davon abhalten, ihre Länder zu verlassen und zu versuchen, irgendwo hinzukommen, wo sie in Sicherheit leben können. Grenzen können nie ganz undurchlässig sein. Es wird nur immer gefährlicher, lebensbedrohlicher und teurer, sie zu überqueren.
Sie sind seit der Gründung bei Alarm Phone aktiv. Wie kam es dazu?
Das Alarm Phone wurde am 11. Oktober 2014 gegründet, ein Jahr nach einem Schiffbruch vor Lampedusa, bei dem mehr als 200 Menschen gestorben waren. Damals dauerte es fast fünf Stunden, bis nach dem ersten Notruf ein maltesisches Boot vor Ort war und schließlich Italiens Küstenwache um Unterstützung bat. Die Rettung kam für viele Menschen zu spät, weil sich Malta und Italien darüber stritten, wer zuständig sei. Wir versuchen deshalb, die Notrufe der Menschen erneut an die Küstenwachen heranzutragen und, wenn nötig, Druck aufzubauen. Wir haben das aber nicht erfunden: Schon vorher gab es Menschen wie den katholischen Priester Mussie Zerai, die ihre Telefonnummern verbreitet haben, um für Flüchtlinge erreichbar zu sein.
Was machen Sie konkret?
Wir arbeiten in Schichten rund um die Uhr und nehmen Notrufe übers Telefon und über Messenger entgegen. Aktiv sind wir in der Ägäis, dem zentralen und westlichen Mittelmeer und im Ärmelkanal. Die Aktiven von Alarm Phone kommen aus mehr als zehn Ländern südlich und nördlich des Mittelmeers und sprechen verschiedene Sprachen, teilweise sind sie selbst Geflüchtete. Ich arbeite meistens zur Route über das zentrale Mittelmeer. Hier ist das Wichtigste die Nummer des Satellitentelefons. Eigentlich müssen sämtliche Boote, die das zentrale Mittelmeer überqueren, so ein Telefon haben. Normalen Handyempfang gibt es auf der Strecke nicht.
Und dann?
Wir versuchen zunächst die Position des Bootes herauszubekommen und fragen, wie die Situation an Bord ist. Das ist schwer, einmal wegen der Sprache, aber auch wegen der Hintergrundgeräusche. Oft ist die Verbindung schlecht. Wenn die Menschen sagen, dass sie dringend Rettung brauchen, alarmieren wir die Küstenwachen, die zivilen Seenotrettungsorganisationen, Fracht- und Handelsschiffe und das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR über einen E-Mail-Alert. Das ist der offizielle Weg. Wir können Schiffe nicht direkt kontaktieren. Wenn möglich, geben wir die aktuelle Position weiter und bleiben in Kontakt mit den Leuten auf dem Boot. Oft sind sie sehr im Stress, schreien, weinen, erzählen, dass es schon Tote gibt, dass die Leute nichts mehr zu trinken haben. Wenn wir Glück haben, kommt dann ein Rettungsschiff. In anderen Regionen ist die Situation unterschiedlich. In der Ägäis gibt es zum Beispiel keine Satellitentelefone und keine Rettungsschiffe. Dort sind Pushbacks ein großes Thema.
Was sagen Sie Leuten, die Ihnen vorwerfen, Geflüchtete nach Europa zu »locken«?
Dass das falsch ist. Menschen flüchten wegen ihrer eigenen Situation oder der in ihren Herkunftsländern. Sie wissen, dass sie auf der Überfahrt ihr Leben riskieren. Wir stellen immer wieder fest: In Zeiten mit mehr Repression wie zum Beispiel 2023 in Tunesien gibt es mehr Überfahrten. Auch das Wetter ist ein wichtiger Faktor. Bei schlechtem Wetter gibt es kaum Überfahrten.
2023 starben 500 Geflüchtete, als ihr Boot vor der griechischen Hafenstadt Pylos kenterte. Damals wurde auch Alarm Phone gerufen.
Da war ich selbst am Telefon. Das Schiff war von Libyen losgefahren, und als ich mit den Menschen an Bord in Kontakt kam, war die Situation schon sehr schlecht, viele Passagiere waren krank. Irgendwann kam die griechische Küstenwache. Sie hat die Menschen aber nicht gerettet, sondern versucht, so unsere Vermutung, das Schiff in italienische Gewässer zu ziehen. Da waren wir aber nicht mehr in Kontakt mit den Leuten. Wir kritisieren, dass die Küstenwachen oft zu spät oder gar nicht reagieren oder wie in diesem Fall versuchen, die Menschen aus ihrer Rettungszone herauszubringen.
Solche Bereitschaftsdienste müssen sehr belastend sein. Wie gehen Sie damit um?
Wichtig ist, dass man Schichten auf keinen Fall allein macht. Wir sind immer mindestens zu zweit. Manche Teams haben Supervisionen, aber nicht alle. Auf unseren Treffen ist das aber immer ein großes Thema. Ich denke, das Wichtigste ist, untereinander darüber zu sprechen.
Was hat sich während der vergangenen zehn Jahre verändert?
Wir sind mehr geworden: Am Anfang waren wir 60 Aktive, jetzt sind wir rund 400. Damals gab es noch keine zivilen Rettungsschiffe, wir konnten also nur die Küstenwachen alarmieren. Dann kamen Sea-Watch und Sea-Eye und nach und nach immer mehr. Auf der anderen Seite gibt es mehr Kriminalisierung. Rettungsschiffe werden immer häufiger festgesetzt. Die neueste Methode ist es, die Crews zu bestrafen, wenn sie mehr als eine Rettung am Stück machen oder wenn sie der sogenannten libyschen Küstenwache nicht gehorchen. Das Problem ist, dass die Such- und Rettungszone Libyens stark ausgeweitet wurde und die meisten Flüchtenden nicht zurück nach Libyen wollen. Sie erleben dort Gewalt, Folter und Vergewaltigung. Auf der europäischen Seite werden Geflüchtete oft festgenommen und manche wegen Schlepperei verurteilt, in Griechenland laut einer Studie der NGO Borderline Europe zu durchschnittlich 46 Jahren Haft. Durch die flüchtlingsfeindliche Politik der EU wird unsere Arbeit noch schwieriger – und wichtiger.
Zum Gründungsjubiläum findet eine Konferenz in Senegals Hauptstadt Dakar statt. Warum gerade dort?
Erstens ist das der südlichste Punkt, wo wir aktive Gruppen haben. Zweitens versuchen aktuell immer mehr Menschen, von Senegal aus die Kanarischen Inseln zu erreichen. Die Route gilt als gefährlichste und tödlichste nach Spanien. Drittens können Aktive aus anderen afrikanischen Ländern leichter nach Senegal einreisen. Normalerweise machen wir unsere Treffen immer abwechselnd nördlich und südlich des Mittelmeers. Aber für Zusammenkünfte in Europa ist es für viele Leute schwierig, überhaupt Visa zu bekommen.
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