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Arbeitsschutz im Rückwärtsgang
Zahl der meldepflichtigen Unfälle sinkt seit Jahren – bundesweit und auch in Brandenburg
Im Juni 1990 gegründet, hat die Transport- und Fördertechnik GmnH (Trafö) seit 1998 ihre Firmenzentrale im Güterverkehrszentrum von Wustermark. Mit rund 160 Beschäftigten vertreibt, repariert und wartet die GmbH als Vertragshändler die Erzeugnisse des Herstellers Linde für die Logistikbranche, darunter verschiedene Modelle von Gabelstaplern. Arbeitsunfälle seien leider in aller Regel schwer und oft tödlich, bedauert Trafö-Geschäftsführer Jörg Kollmorgen. Dabei gibt es moderne Methoden, solche Unglücke ein Stück weit zu verhüten.
Auf dem Firmengelände am Bremer Ring bekommt Brandenburgs Sozialministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) am Mittwoch zwei von 76 möglichen Sicherheitslösungen vorgeführt. Der Trafö-Vertriebsleiter steuert einen Gabelstapler. Ein Kollege spielt einen Arbeiter, der achtlos unvermittelt vor das Spezialfahrzeug tritt. Der Vertreibsleiter, den ebenso unaufmerksamen Fahrer darstellend, reagiert nicht. Aber das Fahrzeug reagiert. Es erkennt die mit einem Sicherheitsgurt mit Sender ausgestattete Person in seinem Weg und bremst automatisch. Dabei ertönt auch noch ein Warnsignal, damit der Kollege notfalls auch noch beiseite springen könnte.
Zusätzlich ist der Gabelstapler mit Leuchten ausgestattet, die seitlich rote Streifen und hinten einen blauen Balken auf den Boden projizieren. So ist ein rückwärts aus einem schmalen Gang hakendes Fahrzeug für andere zu erkennen, bevor es in einem Lagerhaus plötzlich aus der Schlucht der Regale auftaucht. Gängig sind stattdessen Pieptöne, sobald der Rückwärtsgang eingelegt wird. Doch das Piepen ist nicht zu hören, wenn es auf Baustellen oder in Lagerhallen laut ist. Das Piepen nervt dann nur die Fahrer und die schalten es schießlich manchmal einfach ab. Wenn das nicht per Knopfdruck geht, dann »gern mit dem Hammer«, weiß Jörg Kollmorgen.
Da ist die automatische Bremsung verlässlicher. So ein Sicherheitsgurt mit Sender kostet pro Stück allerdings 400 bis 500 Euro, und selbst eine Sparvariante, die an der Kleidung befestigt wird, ist mit etwa 300 Euro auch nicht ganz billig. Angesichts der schlimmen Folgen, die Unfälle mit einem Gabelstapler haben, wäre das aber nach Auffassung von Kollmorgen gut investiertes Geld. »Die Technik wird meistens erst angefragt, wenn ein Unfall passiert ist. Das ist schade«, beklagt der Trafö-Chef. Er schlägt vor, die Politik sollte gesetzlich vorschreiben, derartige Systeme serienmäßig einzubauen. Dann dürften Logistikfirmen nicht mehr am falschen Ende sparen, um ihre Kosten zu senken. Letztendlich setzen sie mit solchem Geiz schließlich Leib und Leben ihrer Mitarbeiter aufs Spiel.
- Bei 71 im Jahr 2023 überprüften selbstfahrenden Arbeitsmitteln gab es zahlreiche geringfügige Mängel und in 22 Prozent der Fälle sogar mittelschwere bis schwere, was zu Verfahren führte.
- In zwei Fällen wurde die Nutzung der Fahrzeuge bis zur Behebung der besonders schweren Mängel untersagt.
- 14,9 Prozent der meldepflichtigen Arbeitsunfälle des vergangenen Jahres entfielen auf den Bereich Holz- und Metallverarbeitung, 10,9 Prozent auf das Bauwesen und 8,3 Prozent auf die Landwirtschaft und den Gartenbau. af
Auch das Nachrüsten alter Gabelstapler ist an sich kein Problem. Für rund 2800 Euro lässt sich eine spezielle Rückwärtsfahrkamera mit Personenerkennung installieren. Das Fahrzeug stoppt dann zwar nicht automatisch wie bei der Variante mit Sender. Aber immerhin kann der Fahrer alle Bereiche gut einsehen. Das minimiert das Unfallrisiko schon einmal erheblich.
Am Hersteller Linde liegt es nicht. Der hat die Vision Zero (zu Deutsch: null). Das bedeutet nichts anderes als: Es soll künftig überhaupt nicht mehr zu Arbeitsunfällen mit Gabelstaplern kommen. Darum tüftele Linde immer weiter an neuen Sicherheitskonzepten, wie Trafö-Geschäftsführerin Ulrike Heinemann versichert.
Bis dieser Traum vielleicht einmal Wirklichkeit wird, dauert es aber noch. Im vergangenen Jahr ereigneten sich in Brandenburg zwölf tödliche Arbeitsunfälle – insgesamt, also nicht nur mit Gabelstaplern, aber auch das. Immerhin sanken die Zahlen über die Jahre. 2022 hatte es 14 Todesfälle gegeben und 2021 sogar 29 – eine allerdings auch der Sozialministerin unerklärliche Menge, ein Ausreißer im Vergleich mit anderen Jahren.
Die Gesamtzahl aller meldepflichtigen Arbeitsunfälle in Brandenburg sank im vergangenen Jahr von 22 499 auf 21 567. Meldepflichtig ist so ein Unfall, wenn das Opfer danach mindestens drei Tage arbeitsunfähig war. Eine Schramme, auf die einfach nur ein Pflaster geklebt wird, zählt also hierbei nicht mit. Nur die schwerwiegenden Fälle fließen in die Statistik ein.
Die zur Vergleichbarkeit angegebene Zahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle je 1000 Erwerbstätige beträgt in Brandenburg 18,8 und liegt damit immer noch 0,2 Punkte über dem Bundesdurchschnitt. Das erklärt die Ministerin in Wustermark unter anderem damit, dass das verletzungsanfällige Baugewerbe in Brandenburg stark vertreten sei und dass 94 Prozent aller Betriebe im Bundesland weniger als 50 Beschäftigte zählen. Kleinere Betriebe sind erfahrungsgemäß beim Arbeitsschutz nicht so weit vorn wie große Konzerne mit Extra-Abteilungen für dieses wichtige Thema.
Immerhin sei die Quote der Unfälle je 1000 Erwerbstätige in Brandenburg um 4,1 Prozent gesunken und im Bundesmaßstab nur um ein Prozent, freut sich Nonnemacher. Extra haben sich die Arbeitsschutzexperten in der Landesverwaltung des Problems der sogenannten selbstfahrenden Arbeitsmittel angenommen, zu denen Gabelstapler, Radlader und Bagger gehören. 71 solcher Spezialfahrzeuge haben die Experten unter die Lupe genommen. Doch wenn diese technisch einwandfrei sind, heißt das noch lange nicht, das nichts geschieht. Menschliches Versagen muss einkalkuliert werden. Die Fahrer seien öfter als gedacht mit den drohenden Gefahren nicht so vertraut, wie man es erwarten dürfte, stellt Trafö-Geschäftsführer Kollmorgen im Ergebnis der Schulungen fest, mit denen sein Unternehmen im vergangenen Jahr 3000 Personen erreichte.
Ministerin Nonnemacher führt an, dass Belegschaften immer »multinationaler« werden. In den Unterweisungen zum Arbeitsschutz mangele es manchmal an den erforderlichen Sprachkenntnissen. Beschäftigte, die nur schlecht Deutsch verstehen, erfassen dann einfach nicht, was ihnen erzählt wird. Teilweise gebe es Unterweisungen deshalb auch schon in anderen Sprachen.
Die Sozialministerin setzt sich bei dem Betriebsbesuch auch selbst in einen Gabelstapler und lässt sich die Funktionsweise der Rückwärtsfahrkamera erläutern. »Sehr eindrucksvoll. Das ist wirklich eine große Hilfe«, lobt die 67-jährige Politikerin, die sich nach der Landtagswahl vom 22. September nun bald in den Ruhestand verabschieden wird, wenn eine neue Landesregierung im Amt ist. Noch sondieren SPD und BSW, ob sie Koalitionsverhandlungen aufnehmen.
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