Das Gute ist nicht verhandelbar

Dantes »Göttliche Komödie« bleibt zeitlos und scheint doch heute so aktuell wie nie zuvor

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 6 Min.
Dante trifft in Florenz seine geliebte Beatrice.
Dante trifft in Florenz seine geliebte Beatrice.

Es ist eine der größten Liebesgeschichten aller Zeiten.

Vergessen wir für einen Augenblick Romeo und Julia oder Tristan und Isolde und richten unseren Blick auf zwei Figuren, die erst nach dem Tod zueinander finden sollten: Dante Aligheri und seine Beatrice. Welch beschwerlichen Weg hat ersterer doch dafür auf sich genommen: In die Hölle ist er hinabgestiegen, bevor er den harten Aufstieg des Läuterungsbergs in Angriff nehmen konnte – um schließlich sie, die Einzige und Wahre, am Eingang zum Paradies zu treffen. Wo die Finsternis von Inferno und Purgatorio enden, da empfängt den Wanderer die Lichtbringerin. In all ihrer Reinheit führt Beatrice den Helden in die höchsten, himmlischen Gefilde, zu den Sternen und Engelscharen, zur Muttergottes, zum Urquell alles Guten. Ein Superlativ folgt auf den nächsten. Und alles ist Glanz und Schönheit und Weite. Kein literarisches Denkmal für eine Frau ist somit jemals monumentaler ausgefallen als jenes Werk namens »Die Göttliche Komödie«.

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Diesem literarischen Klassiker geht eine nie verwundene Entbehrung voraus. Denn Dante hatte noch zu Lebzeiten kaum ein Wort mit der Angebeteten gewechselt, hatte sich, wie er noch in seinem frühmodernen Textkonvolut »Vita Nova« festhält, gar andere Alibifrauen ausgedacht. Sie sollten seinen Liebesschmerz für die junge Frau verschleiern, die bereits mit 24 Jahren an der Pest starb. Er musste damit leben, ihr nie seine Gefühle gestanden zu haben. Die unerfüllte Liebe, sie konnte nur im Schreiben erblühen. Dafür dann aber umso feierlicher! Zumal Dante am Schluss Erlösung zuteilwird: »In Gestalt dann einer Rose/ Erblickte ich vor mir die heilige Schar.«

Nur, so muss man fragen: Was sagt uns in unserer säkularisierten Welt noch eine solche Jenseitsreise? Gewiss dürften diese hundert Gesänge mit ihrer überbordenden Bildsprache und ihren 14 233 Versen, die sich in Terzinen ordnen, heutigen Leser*innen zunächst weitaus weniger sagen als den Zeitgenossen des Dichterpriesters. Letztere dürften gerade an all den grotesken Anspielungen auf Politiker, Geschäftsleute und Intellektuelle ihrer Epoche Freude gehabt haben, die der Autor mit übelsten Strafen im Inferno bedenkt. Im ausufernden Namedropping treffen wir in dem Höllenkreis auf Sündenpfuhle, mit ewig Frierenden im Eis, Geblendeten oder Hungernden. Es wird geklagt und gelitten in dieser Sphäre, die im Zeichen der Abrechnung mit einem in der Dekadenz versinkenden Italien steht. Dante wollte, dass alle von den korrupten Eliten erfahren.

Deshalb hat er seine Komödie auch in der Volkssprache Italienisch verfasst und dabei – nach Jahrhunderten der Latein-Dominanz – die europäische Neuzeit eingeläutet. Doch sieht man von diesem historischen Wert und all den uns heute ziemlich fremden Finten ab, dann bleibt von diesem Opus magnum vor allem eine Botschaft: Trost. Erst indem der Florentiner begann, über den Verlust zu schreiben, konnte er die für ihn traumatische Erfahrung überwinden. Er, der »in einem dunklen Wald […] / vom rechten Wege abgekommen« war und das Irren als Anfang einer Reise begriff, musste sich im Todesreich seinen eigenen Dämonen stellen, musste »der Reue Nessel« spüren. Nur so konnte er sich befreien.

Diese Geschichte der Selbstemanzipation und Rettung hat bis in unsere Zeit immer wieder Künstler zu diversen Dante-Überschreibungen animiert. Beim Film sei etwa auf Vincent Wards »Hinter dem Horizont« (1998) hingewiesen, eine Jenseitsreise, in der sich ein Mann aufmacht, seine verstorbene Frau und Tochter in einem malerisch prächtig ausgestatteten Paradies zu finden, das ziemlich einzigartig in der Kinohistorie zahlreiche Gemälde von Van Gogh verarbeitet. Ähnlich bewundernd hat sich die Literatur der Gegenwart des Stoffes angenommen, wie mitunter Sibylle Lewitscharoffs »Das Pfingstwunder« (2016) belegt. Nachdem sich darin Wissenschaftler zu einem Symposium über den italienischen Poeta laureati versammelt haben, endet die Zusammenkunft mit einer pathetischen Himmelsfahrt. Und was das Theater anbetrifft, so hat Christopher Rüpings Annäherung an Dante mit seiner Inszenierung von »Das neue Leben. Where do we go from here« (2021) das Gefühl einer ganzen Generation getroffen, einer Generation der Liebessuchenden, einer Generation der Hoffnungssuchenden inmitten einer Epoche der Krisen und Kriegen. Übrigens überträgt der Regisseur dazu insbesondere die Reflexion der Pest auf die Auseinandersetzung mit den Massentoden durch die Corona-Pandemie. Dantes Komödie und all seine kleineren dazugehörigen Texte waren selten zuvor so brisant und aussagekräftig wie heute.

Sein Monumentalwerk versteht sich nach wie vor als Therapeutikum. Aus den Dystopien unserer Tage ragt es als Phalanx der Hoffnung hervor. Geöffnet werden uns pathetisch die Tore in einen längst verloren geglaubten Raum der Wahrheit. Sie offenbart sich in Strahlen der Sonne, dem Feuer oder auch dem Gesang der Erlösten. Dante zeigt uns, dass es einen Weg dorthin gibt, und er macht uns Mut ihn trotz aller Beschwerlichkeiten zu beschreiten. Er mag dabei über das Jenseits geschrieben haben, aber im Grunde liest sich seine Expedition ebenfalls als der Lebensweg selbst, mit sämtlichen Abgründen und Rückschlägen. Was ihn aufrecht hält, ist die Sehnsucht. Wie oft wäre er in seiner Geschichte beinah von Klippen abgestürzt und selbst in den Schlund des dreiköpfigen Satans geraten. Die Hürden meistert er, weil er nicht aufgibt und weil er einen freundschaftlichen Führer zur Seite hat: Vergil.

Diesen antiken Dichter könnte man als echten Lotsen bezeichnen. »Und laß, mein Sohn, nicht ab, zu hoffen«, so Dantes Gegenüber. Dass der Erzähler gerade einen Literaten als Gefährten wählte, hat seinen plausiblen Grund. Bücher (und damit auch ihre Autor*innen) erweisen sich als bestes Mittel gegen die Einsamkeit. Und ist letztere nicht das Virus unserer Zeit? Trägt nicht gerade sie zu dem Ennui der Spätmoderne bei? Ihm stellt Dante das Prinzip der bedingungslosen Liebe (einer der häufigsten Begriffe im Text) entgegen.

Weder Vergil noch Beatrice fordern einen Lohn für ihre Begleitung. Sie wie auch Dante selbst repräsentieren eine Gesellschaft der Mitfühlenden. An nahezu jeder Station setzt sich der Autor den Bestraften aus und hört sich ihre Geschichten an. Da-Sein, Zuhören, empfänglich bleiben, so lautet der Dreiklang dieses Werks, das uns trotz seiner uns oft überkomplex anmutenden, pastoralen Sprache so nah ist. Zerrissen zwischen unzähligen Fronten in und außerhalb der Gemeinschaft wird uns bei der Lektüre bewusst: Es gibt universelle und überzeitliche Konstante. Das Gute ist nicht verhandelbar.

In dem für seine Bibliothek der Weltliteratur bekannten Münchener Verlag Manesse erscheint am 6. November eine prachtvolle Neuedition von »Dante: Die göttliche Komödie« (Neuübersetzung, Kommentierung und Nachwort v. Rudolf Georg Adam, 1120 S., geb., 80 €).

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