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Berlin: Sechs Jahre komplette Isolation
Senatsdokumente zeigen, dass im Berliner Maßregelvollzug Menschenrechte verletzt werden
»Es ist ein System der Intransparenz«, sagt Manuel Matzke, Sprecher der bundesweiten Gefangengewerkschaft über den Maßregelvollzug »nd«. Dort werden straffällig gewordene psychisch kranke und suchtabhängige Patient*innen untergebracht. Ob Grundrechte eingehalten werden, lasse sich für ihn schwer beurteilen, so Matzke. Der Maßregelvollzug ist nicht dem Justiz-, sondern dem Gesundheitssenat unterstellt. Wie lange Patient*innen beispielsweise in Isolationshaft festgehalten werden, erfasst die Behörde laut eigenen Aussagen nicht.
Die investigative Rechercheplattform »Frag den Staat« und die Tageszeitung »Taz« hat am Montag mehr Transparenz für den Berliner Maßregelvollzug geschaffen. Sie veröffentlichten diverse Dokumente, die belegen, dass zum Zeitpunkt 24. September 2024 insgesamt sechs Menschen mehr als einen Monat in Isolationshaft gehalten wurden. Unter ihnen ist ein Mann, der seit mehr als sechs Jahren in einem Isolationsraum in einem Krankenhaus des Maßregelvollzugs (KMV) eingesperrt ist. Wer länger als 15 Tage isoliert wird, ist nach den Mindestgrundsätzen für die Behandlung Gefangener der Vereinten Nationen der Folter ausgesetzt, wie sich dem öfffentlich zugänglichen Dokument unter Regel 43 und 44 nachlesen lässt. Trotz mehrfacher Versuche seitens »Frag den Staat«, Informationen zur Isolationshaft im KMV zu bekommen, antwortete der Senat erst, nachdem das Medium klagte.
Ein Mann ist seit mehr als sechs Jahren in einem Isolationsraum im Krankenhaus des Maßregelvollzugs eingesperrt.
Der Senat begründet die lange Isolationshaft des Berliners im KMV mit der »Eigen- und/oder Fremdgefährdung«, wie es in einem der freigelegten Senatsschreiben heißt. »Produktiv psychiotische« Patient*innen, also solche, die unter Symptomen wie Wahnvorstellungen oder Halluzinationen leiden, seien »mitunter über einen längeren Zeitraum isolationspflichtig«, wie ein Sprecher des Senats »nd« erklärte. Diese Art von Patient*innen würden Medikamente meist verweigern. Diese bräuchten sie aber, damit sie nicht mehr gefährdend für sich oder andere seien.
Der Berliner Maßregelvollzug steht seit Langem in der Kritik – sowohl, was die Versorgung der Patient*innen anbelangt, als auch die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Im April macht der ehemalige Chefarzt des KMV Sven Reiners Schlagzeilen, weil er von seiner Stelle zurücktrat mit der Begründung, dass er die Grundrechte »nicht mehr gefährdet, sondern nicht mehr gegeben« sehe, wie er im »RBB« sagte. Seinem Rücktritt folgten Demonstrationen von Beschäftigten, die auf die katastrophalen Bedingungen aufmerksam machten: Zu wenig Personal betreue auf zu engem Raum zu viele Menschen. In der Folge sei Gewalt gegenüber Patient*innen und Beschäftigten Alltag. Ein Sprecher der Gesundheitssenatsverwaltung sagte »nd«, dass der Reinickendorfer Standort des KMV (Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik) mit 53,3 Millionen Euro saniert werde – »die Vorbereitungen vor Ort laufen«, wie er mitteilte. Man werde das KMV nicht nur räumlich, sondern auch personell erweitern. Ein neuer Leiter des KMV trete seine Stelle ab Januar 2025 an.
Kurz nach der Veröffentlichung von »Frag den Staat« hat die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) einen offenen Brief an den Berliner Senat gerichtet. Die DGSP spricht darin über die Krise des Maßregelvollzugs, die sich in der starken Überbelegung, zu wenig Personal, eingeschränkter Therapieangebote und fehlender Reformen der psychiatrischen Versorgung zeige. »Dem Regierenden Bürgermeister, dem Senat und den zuständigen Senatsverwaltungen können gubernatives und administratives Systemversagen vorgehalten werden, soweit sie ihrer Gesamtverantwortung für den Maßregelvollzug in Berlin nicht nachgekommen sind«, heißt es.
Die DGSP fordert den Senat unter anderem auf, »schnellstens« die Unterbringung aller weiteren Patient*innen im Maßregelvollzug im Hinblick auf Freiheitseinschränkungen zu überprüfen und psychiatrische Versorgung für zur Maßregel verurteilte Berliner*innen zu öffnen, beispielsweise indem sozialpsychiatrische Dienste, Ambulanzen oder teilstationäre Einrichtungen stärker in die Versorgung einbezogen werden.
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