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Verteilungsbericht: Höchststand bei Einkommensungleichheit
Steigende Mieten und Lebensmittelpreise bereiten immer mehr Menschen Zukunftsängste. Warum das auch die Demoratie bedroht
Kein Geld für unerwartete Ausgaben, um Freund*innen zum Essen einzuladen, oder für Freizeitaktivitäten; an einen Autokauf ist nicht zu denken und die Kohle reicht nicht einmal, um verschlissene Kleidung zu ersetzen. Das ist für viele Menschen in Deutschland seit Jahren bittere Realität, wie der neue Verteilungsbericht des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) zeigt. Demnach erreichte die Einkommensungleichheit im Jahr 2021 einen neuen Höchststand seit der Vereinigung. »Die Entwicklung wird sich verschärfen, wenn wir nicht gegensteuern«, warnt WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch bei der Vorstellung des Berichts am Montag.
Laut dem Verteilungsbericht litten knapp 18 Prozent der Menschen unter Armut, rund vier Prozent mehr als 2010, zum Beginn der Zeitreihe. Ihr durchschnittlich verfügbares Einkommen bezifferte sich auf knapp 11 400 Euro jährlich (umgerechnet 950 Euro monatlich).
Als arm gilt, wer über ein Einkommen von unter 60 Prozent des Medianeinkommens verfügt, das laut WSI-Berechnungen im Jahr 2020 bei 1800 Euro lag. Verfügbares Einkommen bezeichnet dabei das Nettogesamteinkommen aller Haushaltsmitglieder nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben zuzüglich staatlicher und privater Transferzahlungen.
Frauen sind in allen Einkommensgruppen der unteren Einkommenshälfte leicht überrepräsentiert. Das gilt auch für Menschen mit Migrationshintergrund, Personen unter 25 Jahren sowie Ostdeutsche. Rentner*innen finden sich vor allem in der prekären Einkommensgruppe wieder (60 bis 80 Prozent des Medianeinkommens). Insbesondere aus dieser Gruppe rutschten laut Bericht immer mehr Menschen in die Armut ab. Die Folge ist eine weitere Polarisierung der Einkommensverteilung.
Die Quote der reichen Haushalte (mehr als 200 Prozent des Medians) blieb mit acht Prozent dagegen weitgehend konstant. Über großen Einkommensreichtum (300 Prozent des Medianeinkommens) verfügten rund 2,3 Prozent der Haushalte, ein Plus von 0,4 Prozent gegenüber 2010.
Dass der Unterschied zwischen den unteren und oberen Gruppen sich seit 2010 derart vergrößerte, ist laut den Studienautor*innen vor allem darauf zurückzuführen, dass Arme und Prekäre kaum von der positiven Wirtschaftsentwicklung in der vergangenen Dekade profitierten. Von 2010 bis 2021 stieg laut Bericht das durchschnittliche verfügbare Jahreseinkommen in armen Haushalten nur um zehn Prozent. In den mittleren Einkommensgruppen war die Steigerung doppelt so hoch.
Die Folgen der sich weiter verschärfenden Armut in Deutschland sind verheerend: Knapp zehn Prozent der befragten Armen gaben an, sich keine neue Kleidung leisten zu können. 42,8 Prozent können keine Rücklagen bilden, um unerwartete Ausgaben abzufedern. Für viele waren Freizeitaktivitäten (16,9 Prozent) und Einladungen (13,7 Prozent) unerschwinglich. Das geht aus der gesondert durchgeführten Lebenslagenbefragung hervor, die die Sozialforscher*innen in den Jahren 2020 und 2023 durchgeführt haben. »Deutschland steckt in einer Teilhabekrise«, warnt Dorothee Spannagel, WSI-Verteilungsexpertin und Studienautorin, mit Blick auf die Ergebnisse.
Die Lage in den unteren Einkommensgruppen dürfte sich durch die starke Teuerungsrate der vergangenen Jahre weiter zugespitzt haben, vermutet Spannagel. Zwar liegen mit Blick auf die Einkommensverteilung für die Zeit nach 2021 noch keine Daten vor, zudem spielt die Inflation bei der Berechnung der relativen Armut keine unmittelbare Rolle. Dennoch ist klar: »Bei einer hohen Inflation kann man sich vom Einkommen weniger leisten«, erklärt die Verteilungsexpertin auf nd-Nachfrage.
Dies zeige sich unter anderem darin, dass Zukunfts- und Abstiegsängste in den unteren Einkommensgruppen in den vergangenen Jahren stark zugenommen haben. Demnach befürchten inzwischen 55 Prozent der Armen und über 58 Prozent derjenigen mit prekären Einkommen, dass sie ihren Lebensstandard dauerhaft nicht halten können. Im Jahr 2020 war diese Angst mit 48,8 und 44,1 Prozent noch deutlich geringer ausgeprägt.
Damit geht auch eine zunehmende politische Entfremdung einher, konstatieren die WSI-Forscher*innen. »Je geringer das Einkommen, desto größer die Distanz zum politischen System«, erklärt der Ko-Autor der Studie, Jan Brülle, die Befunde. Weniger als die Hälfte der Armen und Prekären glaubt noch daran, dass die Demokratie gut funktioniert. Rund ein Fünftel vertraut dem Rechtssystem kaum. »Das ist ein Teufelskreis«, stellt er fest.
Um diese Abwärtsspirale zu durchbrechen, müsse das Teilhabeversprechen der Demokratie erneuert werden, fordert Institutsdirektorin Kohlrausch. Als schädlich bezeichnet sie dabei etwa die derzeit geführte Debatte um das Bürgergeld, in der Kürzungen und schärfere Sanktionen diskutiert werden. Das befördere Statuskämpfe und eine weitere Spaltung der Gesellschaft. »Das spielt antidemokratischen Kräften in die Hände«, warnt sie.
Stattdessen müsse die Politik Tarifverträge, die Grundsicherung sowie die gesetzliche Rente stärken. Um die nötigen Investitionen zu ermöglichen, müssten die Schuldenbremse reformiert und große Vermögen wirksam besteuert werden. So könnten die soziale Infrastruktur und die öffentliche Daseinsvorsorge ebenso finanziert werden wie staatliche Qualifizierungsmaßnahmen für Menschen am Arbeitsmarktrand und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, etwa durch einen Ausbau der Kinderbetreuung.
Doch die Aussichten dafür sind nicht gut. »Die Machtverhältnisse sehen momentan eher so aus, dass sie zu einer Verstärkung von Ungleichheit führen«, gibt Kohlrausch zu bedenken. Während progressive Kräfte der Entwicklung derzeit wenig entgegenzusetzen hätten, könne man »konstatieren, dass Oben-Unten-Konflikte erfolgreich in Innen-Außen-Konflikte umgedeutet wurden«, stellt sie fest. Es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die soziale und Vermögensungleichheit zu bekämpfen. »Ich hoffe, dass da stärker ein Konsens unter demokratischen Kräften in der Gesellschaft entsteht«, sagt sie.
Der aktuelle Verteilungsbericht basiert auf der Lebenslagenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung und des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP). Die aktuellen Daten lassen Rückschlüsse auf die Einkommensverteilung bis zum Jahr 2021 zu.
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