Mauerspechte meißeln weiter

Über das Geschäft mit den Überresten der Berliner Mauer

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 2 Min.
Wenn die Mauer aber nun ein Loch hat - DDR-Grenzsoldaten am 11. November 1989.
Wenn die Mauer aber nun ein Loch hat - DDR-Grenzsoldaten am 11. November 1989.

Mit den Überresten der Berliner Mauer scheint es so zu sein wie mit dem Beelitzer Spargel. Es wird mehr Beelitzer Spargel verkauft als geerntet. Es ist also gefälschte Ware auf dem Markt. Touristen werden vermutlich bis heute mit angeblichen Stückchen von der Berliner Mauer betrogen, wenn sie nicht eins mit Echtheitszertifikat erwerben. Auch 35 Jahre nach dem Mauerfall läuft das Geschäft mit Mauerteilen.

Lange steigerte sich die Beschäftigung mit Wende und Mauerfall von Jubiläum zu Jubiläum. Doch inzwischen ließ das Interesse von Politikern und Journalisten an diesen Themen spürbar nach. Die Vergangenheit taugte irgendwann nicht mehr dazu, von den Schwierigkeiten der Gegenwart abzulenken. Das Erstarken der AfD beansprucht die Aufmerksamkeit. Versuche, die AfD mit der SED zu erklären, sind dann doch zu hanebüchen.

Ich gehörte 1989 nicht zu den sogenannten Mauerspechten, die sich ein persönliches Erinnerungsstück aus dem Beton der überflüssig gemachten Grenzsicherungsanlagen hämmerten. Meine Familie bewahrt aber eine Schere auf, die mein Großonkel Franzl als Wehrmachtssoldat bis kurz vor die Tore Stalingrads trug. Er hatte bis zur Besetzung des Sudetenlandes durch die Hitlerfaschisten in der Tschechoslowakei in einer Konsumgenossenschaft gearbeitet und galt den Nazis deshalb als Roter. Bevor er desertieren konnte, riss ihm in der sowjetischen Steppe eine Bombe ein Bein ab und er verblutete. Von Franzl blieb nur ein Foto und die Schere. Die Mauer war eine Folge des Krieges, in den er gegen seine Überzeugung ziehen musste. Daran erinnert mich diese Schere.

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