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Hilfe bis zuletzt
Katharina Alfs begleitet als Krankenschwester Schwerkranke an ihrem Lebensende
Auf dem Krankenhausflur ist es ruhig. Nur ab und zu piept ein Blutdruckmonitor. Plötzlich öffnet sich eine Zimmertür. Die Palliativkrankenschwester Katharina Alfs kommt auf den Gang, eine Akte unterm Arm. Sie muss auf eine unerwartete Entwicklung reagieren. Die Details des konkreten Falls möchte sie nicht schildern. »Es kommt vor, dass Patienten mit einer palliativen Erstdiagnose gestern noch ganz fit waren und heute akut Probleme haben. Dann läuft die ganze Maschinerie der Diagnostik an, und es stellt sich raus: metastasiertes Bronchialkarzinom, beispielsweise. Das ist nicht selten.«
Palliative Pflegeberatung
In ihrer Ausbildung hat sich Katharina Alfs auf den Bereich palliative Pflegeberatung spezialisiert. Sie betreut Patienten, die eine Krebsdiagnose haben. Morgens dreht die 33-Jährige eine Runde durch die Zimmer der Personen, die neu auf die onkologische Abteilung der Kliniken Essen-Mitte eingewiesen wurden. »Ich stelle mich als Palliativberatung in der Onkologie vor. Manchmal muss ich den Begriff palliativ erklären und die Angst vor dem Wort nehmen.«
Palliativ stammt von dem lateinischen Wort pallium, der Mantel. In diesem Sinne verfolgt die Palliativmedizin das Ziel, die Kranken zu ummanteln, zu beschützen. Sie verbessert die Lebensqualität von Menschen, die unter unheilbaren, fortgeschrittenen Erkrankungen leiden. Nicht die Heilung steht im Vordergrund, sondern die Linderung von Schmerzen und Symptomen, erklärt Katharina Alfs. »Manche Patienten sind total geschockt. Der erste Schock ist, dass sie überhaupt krank sind. Dann der Schock, dass sie nicht geheilt werden können. Und dann läuft oft sehr schnell die Therapie an, damit die Tumorerkrankung begrenzt bleibt. Davon fühlen sich viele total überfordert.«
Die resolute Pflegerin unterstützt Menschen, die dringend eine helfende Hand oder ein offenes Ohr brauchen. Gerade bei neu eingewiesenen Patienten geht sie auch auf spirituelle Fragen ein. »Viele fallen in ein Erstdiagnoseloch. Um sie da rauszuholen, versuche ich ihnen vor Augen zu führen, dass es trotz dieser schlimmen Nachricht immer auch Hoffnung gibt. Die Symptomlast kann gut kontrolliert werden und mit einer Tumortherapie gewinnen wir Zeit. Und Lebenszeit ist den meisten sehr, sehr wichtig.«
Die Palliativbewegung verfolgt seit den 60er-Jahren das Ziel, die Tabuisierung des Todes zu durchbrechen und die Verdrängung des Sterbens aus dem Bewusstsein der Lebenden zu verhindern. Sie hat viele Fortschritte in der palliativmedizinischen Ausbildung, Forschung und Qualitätsentwicklung angestoßen. Doch das Bewusstsein für den Bedarf an spiritueller Begleitung hat erst in den letzten Jahren deutlich zugenommen.
Im Jahr 2002 hat die Weltgesundheitsorganisation den Begriff »Spiritual Care« in ihre Definition der Palliativversorgung aufgenommen. Sie betont, dass eine ganzheitliche Betreuung die Spiritualität des Menschen einbeziehen muss. Seither gilt »Spiritual Care« offiziell als unverzichtbarer Bestandteil der Behandlung und Pflege Schwerkranker und Sterbender. Neben der physischen, psychischen und sozialen Dimension ist die spirituelle Begleitung heute die vierte Säule der Palliativmedizin. Trauer, Leid und Abschiednehmen sollen auch im Krankenhaus als wichtige Elemente des Lebens anerkannt werden.
Zeit am Krankenbett
Im Büro von Katharina Alfs surrt ein Drucker. Sie ist fast fertig mit den Verwaltungsaufgaben. Es ist ihr wichtig, dass jeden Tag Zeit bleibt, auf die Bedürfnisse der Patienten in den Krankenzimmern einzugehen. »Ich halte es für ein Problem, dass in der Gesellschaft kaum über Tod und Sterben gesprochen wird«, sagt sie. »Man muss ja nicht permanent daran denken, aber im Angesicht der eigenen Endlichkeit wird vielen deutlich, dass sie vielleicht etwas bewusster hätten leben können, dass sie einige Dinge nicht hätten aufschieben sollen. Viele erleben es als Kränkung, dass das eigene Leben zu Ende geht. Die Erkrankung kränkt den Menschen.«
Die Palliativberaterin erlebt es als großes Privileg, dass sie sich an den Krankenbetten Zeit nehmen kann. »Wenn wir uns zu den Patienten setzen, sprechen wir nicht nur über die Symptomlast, sondern auch über biografische Ereignisse, die ihnen wichtig sind. Manchmal kommen alte Traumata hoch. Wir können den ganzen Menschen sehen, sein ganzes Leben, sein Wesen.«
Eine spirituelle Begleitung kann die Lebens- und Sterbequalität schwerstkranker Menschen erheblich verbessern. Dafür braucht es geschultes Personal, das versteht, wie unterschiedlich Menschen im Angesicht des Todes reagieren. »Normal ist nichts«, sagt Katharina Alfs. »Es gibt keinen Standard. Das ist so individuell wie das Leben.«
Im Krankenhaus werden ständig Entscheidungen getroffen, die Einfluss auf Leben und Tod haben. In der palliativen Tagesklinik der Kliniken Essen-Mitte ist oft die Oberärztin der Onkologie, Almuth Brundert, zuständig. Auch sie hält es für wichtig, dass die Patienten spirituell begleitet werden: »Das gilt nicht nur für diejenigen Menschen, die in ihren Religionen aufgehoben sind. Wir bieten auch spirituelle Begleitung für Patienten an, die nicht der christlichen Religion nahestehen, sondern zum Beispiel dem Islam oder anderen Glaubensrichtungen.«
Jedes Jahr sterben in Deutschland rund eine Million Menschen, nahezu die Hälfte davon in einem Krankenhaus, viele an Krebs. Almuth Brundert wünscht sich, dass bald jede onkologische Abteilung in Deutschland eine integrierte Palliativmedizin hat. »Das wäre eine Voraussetzung dafür, dass Sterbende von der ersten Tumordiagnose bis zum Ende angemessen betreut werden.«
In Deutschland werden Fragen zum Tod und dazu, was danach kommen könnte, noch immer oft der konfessionsgebundenen Seelsorge zugeordnet. In anderen Ländern wie der Schweiz, den Niederlanden und Großbritannien arbeiten schon lange religionsunabhängige Professionelle, die sich akademisch auf die spirituelle Begleitung vorbereitet haben. An deutschen Universitäten sind solche Angebote noch ganz neu. Im Wintersemester 2024 hat an der Universität Münster erstmals ein Masterstudiengang mit dem Titel »Spiritual Care« begonnen. Und an der Technische Universität München gibt es einen Forschungsschwerpunkt »Spiritual Care« mit verschiedenen Projekten und Veranstaltungen.
Einen wichtigen Impuls erhielt die deutsche Palliativbewegung im Jahr 1972 durch die Veröffentlichung des Buches »Interviews mit Sterbenden«. Darin entwarf die Schweizer Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross ein Modell mit fünf Phasen: Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Ihre Beschreibung des Erlebens und Verhaltens von Sterbenden hatte großen Einfluss auf die Palliativpflege. Dennoch dauerte es bis Dezember 2015, dass ein Hospiz- und Palliativgesetz in Kraft trat, das die Versorgung Sterbender regelt.
Gespräche am Lebensende
Auch die Fachärztin Almuth Brundert wünscht sich, dass den spirituellen Bedürfnissen der Kranken Aufmerksamkeit geschenkt wird, insbesondere wenn es am Lebensende um Sinnsuche und existenzielle Fragen geht. Eine ihrer Patientinnen in der Tagesklinik für Palliativmedizin leidet an einer metastasierten Tumorerkrankung. Vor zweieinhalb Jahren haben verschiedene Ärzte der Frau gesagt, sie sei unheilbar krank und habe nicht mehr lange zu leben. »Damals sagten die Kollegen, es gäbe postoperativ keine chemotherapeutischen Möglichkeiten mehr«, erinnert sich Almuth Brundert. »Daraufhin hat sie sich informiert und erfahren, dass in unserer Abteilung auch Patienten in fortgeschrittenen Stadien behandelt werden. Wir haben sie in unsere therapeutische Obhut genommen und chemotherapeutisch behandelt. Seit fast zweieinhalb Jahren wird sie auch durch einen Pflegedienst vor Ort palliativmedizinisch betreut.«
Die 55-jährige Patientin ist 1991 aus Rumänien nach Deutschland gekommen. Die Krebsdiagnose traf sie völlig unvorbereitet. »Es war schon gewaltig. Ich fühlte mich ja gesund. Bis dahin kannte ich Krankenhäuser nur von außen. Doch dann musste ich von jetzt auf sofort meine Tasche packen und in die Klinik.«
Die erste Notoperation war nur begrenzt erfolgreich. »Leider konnten 20 Prozent der Tumormasse nicht operiert werden. Von da an war es ein Kampf ums Weiterleben. Der Operateur meinte, es gebe keine weitere Therapiemöglichkeit. Aber damit wollte ich mich nicht abfinden. Mir ging es ja gut. Da kann man mir nicht einfach sagen: ›Das war’s.‹«
»Viele Patienten fallen in ein Erstdiagnoseloch. Um sie da rauszuholen, versuche ich ihnen vor Augen zu führen, dass es trotz dieser schlimmen Nachricht immer auch Hoffnung gibt.«
Katharina Alfs Palliativkrankenschwester
Patienten haben das Recht, die Wahrheit über ihren Gesundheitszustand zu erfahren. Nur so können sie informierte Entscheidungen treffen, etwa in Bezug auf ihre Behandlung, persönliche Angelegenheiten oder den Abschied von Angehörigen. Doch in der Medizin ist es schwierig, präzise Vorhersagen zu treffen, selbst in fortgeschrittenen Krankheitsstadien. Inkorrekte oder zu eindeutige Zeitangaben können unnötige Ängste hervorrufen oder falsche Hoffnungen wecken. Viele unheilbar Kranke möchten den Tod so lange wie möglich hinauszögern, während andere sich eher in ihr Schicksal ergeben. Diese unterschiedlichen Bewältigungsstrategien können die Beziehungen zu anderen Menschen erheblich belasten. Für die krebskranke Patientin waren die Gespräche mit ihrer Familie sehr wertvoll: »Wir haben erstmal zusammen geweint. Dann haben wir versucht, sachlich zu planen, was wann eintreten wird und wie man das erleben möchte. Ich habe einen Sohn. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ihn die Nachricht so hart treffen würde. Mittlerweile telefonieren wir täglich.«
Doch ganz gleich, wie intensiv ein Mensch in seiner letzten Lebensphase begleitet und unterstützt wird – die Frage, was nach dem Tod kommt, bleibt ohne Antwort. »Ich hab Angst vorm Sterben. Niemand kann mir sagen, wie das abläuft«, sagt die 55-Jährige. »Es gibt auch Momente, in denen mich die Traurigkeit überkommt, weil ich einen anderen Plan für mein Leben hatte.«
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