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Todbringende Spuren
Fritz Schumann erkundete Japan und entdeckte das Erbe von todbringendem deutschem Know-how
Die Nachricht, dass der diesjährige Friedensnobelpreis an die japanische Organisation Nihon Hidankyo geht, gegründet von Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki, die sich für nukleare Abrüstung einsetzen, wird den Autor gewiss gefreut haben. Seit seinem Studium in Hiroshima beschäftigt ihn dieses Thema. Insbesondere jedoch eine Insel in der Bucht vor jener Stadt, die 1945 mit einer Atombombe ausradiert worden war.
Auf Okunoshima, der Insel der Hasen – so geheißen wegen der dort in Unmengen herumhoppelnden Langohren –, befindet sich heute ein über Japans Grenzen hinaus bekanntes Urlauberparadies. Und bis 1945 eine Anlage zur Giftgasherstellung sowie eine Produktionsstätte, in der zwangsrekrutierte Schülerinnen aus Reispapier Ballons fertigten. An diese hängte man Behälter mit Giftgas, die mit dem Passat den Pazifik überqueren und in den USA töten sollten. Viele Ballons kamen dort, gottlob, nicht an.
Im besetzten China wurde aber das Giftgas zu ebener Erde eingesetzt. Die Zahl der auf diese Weise Ermordeten kennt man nicht, nur eben, dass wohl etwa 35 Millionen Chinesen in diesem barbarischen Eroberungskrieg ihr Leben verloren. Und dass auch heute noch in China Menschen sterben, wenn bei Bauarbeiten Giftgasbehälter freigelegt werden. Es gibt nämlich keine Lagepläne, wo überall die Japaner bei ihrem Rückzug das Dreckszeug eilig verscharrt haben, sodass man es systematisch ausgraben und entsorgen könnte.
Die Insel mit den von der Natur inzwischen heimgesuchten Ruinenresten, deren Geschichte kein Urlauber kennt, denn sonst wäre er vermutlich nicht hier, suchte Fritz Schumann wiederholt auf. Sie ist nur ein Ort von insgesamt 15, die er in den verflossenen Jahren im Kaiserreich besuchte. Verlassene Siedlungen, einsame Täler, verschneite Berge mit Mönchen, Gegenden also, die nicht unbedingt Touristen locken – wer reist schon nach Fukushima, wo 2011 ein Tsunami im dortigen Kernkraftwerk einen Super-Gau auslöste? Die Wellen erreichten damals auch Europa und führten zur Entscheidung, in Deutschland die Kernkraftwerke abzuschalten.
Schumann gehört später zu den Freiwilligen, die Lebensmittel unter den Menschen verteilten, die aus der verstrahlten 20-Kilometer-Zone evakuiert worden waren. Die Jungen waren weitergezogen, die Alten blieben in den Container-Lagern. »Jaja, die deutsch-japanische Freundschaft, wir helfen uns immer, nicht wahr«, sagte eine Frau zu ihm. Schumann schwieg. Das Giftgas auf Okunoshima war mit deutschem Know-how produziert worden, nicht zu reden vom Antikominternpakt, den die Faschisten in Berlin und Tokio 1936 geschmiedet hatten … Doch das hatte die alte Frau gewiss nicht im Sinn, sondern nur, freundlich für Kartoffeln, Gemüse, Obst und Wasser danken wollen. »Das Lager liegt neben einem erntereifen Reisfeld, dessen saftiges Grün einen zynischen Kontrast zu den farblosen Baracken bildet. So verlockend der Reis aussieht, essen möchten ihn die Menschen nicht«, schreibt Schumann.
55 000 Menschen leben auch noch nach Jahren, als Schumann wieder dort war, in den temporären Einrichtungen. Das Reaktorunglück forderte keine »direkten Toten«, doch die japanische Regierung geht von mehr als 2000 »indirekten Todesopfern der Katastrophe aus« – die einen starben wegen des Stresses am Herzinfarkt, die anderen wegen Hoffnungslosigkeit am Alkohol.
Der studierte Fotograf vom Jahrgang 1987 hat die vier japanischen Hauptinseln bereist. Die Anlässe: verschieden, die journalistischen Erträge: beachtlich. Die sind jetzt unter dem Titel »Japan, wer bist du?« im Berliner Verlag Reisedepeschen erschienen. Das Buch ist, was vielleicht bei dem Verlagsnamen zu vermuten wäre, explizit kein Reiseführer, auch keine Sammlung klassischer Reisereportagen. Schumann schreibt vornehmlich über Menschen, denen er mehr oder minder zufällig begegnete.
Ihre Schicksale sind natürlich zunächst persönliche Geschichten. Doch sie erzählen zugleich viel über das fernöstliche Land mit seinen uralten Traditionen und Besonderheiten. Man erfährt auch: Japan steckt seit mehr als dreißig Jahren in der Krise. Nach einem fulminanten wirtschaftlichen Aufstieg, der unter anderem auch deshalb möglich war, weil man sich nach dem Weltkrieg die Rüstungsausgaben sparte und aus allen bewaffneten Konflikten heraushielt, kam die Trendwende.
Als die Sowjetunion zusammenbrach und die USA ein stärkeres militärisches Engagement auch von Japan forderte, wurden die »Selbstverteidigungskräfte« massiv ausgebaut. 1992 beteiligte sich Japan erstmals an einer UN-Mission, um die Wahlen in Kambodscha zu überwachen, 2004 zog es an der Seite der USA erstmals in einen Krieg ohne UN-Mandat. 2011 – als die USA ihren »Pivot to Asia« vollzogen – ging auch Japan zu einer offensiveren Militärstruktur über. Gemessen an den Ausgaben ist das Kaiserreich inzwischen die drittgrößte Militärmacht der Welt, Tokio hat heute eine Viertelmillion Soldaten unter Waffen.
Was macht das mit den einfachen Menschen? Wie verändert es ihr Leben? Fritz Schumann beobachtet, fragt zurückhaltend, Politik bleibt scheinbar außen vor. So erfährt er (und damit der Leser) viel über dieses Land, mehr, als in der Tagespresse verbreitet wird. Es ist ein lesbares, ein sehr erhellendes, aber auch ein optisch sehr schönes Buch entstanden, das Verlag und Autor vorlegen. Der eine bekam zur Buchmesse in Frankfurt am Main den Deutschen Verlagspreis, der andere muss noch etwas warten, ehe ihm eine vergleichbare, durchaus zustehende Ehrung zuteilwird.
Reisen machen klüger, heißt es. Durch Japan allemal. Schumann hat dort erkennbar Geduld, Nachsicht und Höflichkeit erworben. Was für ein Schatz in diesem stressigen Deutschland!
Fritz Schumann: Japan, wer bist du? Verborgene Orte und unerzählte Geschichten. Reisedepeschen-Verlag, 350 S., geb., 26 €.
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