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Agrarflächen in Argentinien: Langsame Gewalt
In Argentinien, wo die Hälfte der Agrarflächen für den Sojaanbau benutzt wird, kämpfen Indigene gegen den Einsatz von Glyphosat und anderen Giften.
Auf einer Werbeanzeige des Agrarchemie-Konzerns Syngenta wurde vor einigen Jahren die »Vereinigte Soja-Republik« ausgerufen, eine der Fantasie des Agrarsektors entsprungene Fiktion, die mit den Jahren immer realer zu werden scheint. Sie erstreckt sich über mehrere Ländergrenzen hinweg im südamerikanischen Cono Sur, dem Gebiet um den südlichen Wendekreis. Seit den 90er Jahren hat die asiatische Bohne einen triumphalen Siegeszug in der gesamten Region angetreten. Und mit ihr die Akteure des dazugehörenden Technologie-Pakets: große Agrarbetriebe, Chemie- und Saatgutkonzerne, globale Agrarhändler, Investoren. An den äußersten Rändern der Soja-Republik, in der von Entwaldung bedrohten Chaco-Region im Nordwesten Argentiniens, treten die Schattenseiten dieses Entwicklungsmodells besonders deutlich vor Augen.
An einem feuchtwarmen Tag im Februar – es ist Sommer in der südlichen Hemisphäre und Regenzeit im Chaco – treffe ich Isaías Fernandez und Nancy López, indigene Anführer*innen der kleinen Wichí-Weenhayek-Siedlungen Quabracho und Oka Puckie, zum Interview. Einige der Holzhütten sehen nach einem Sturm in der Nacht zuvor stark mitgenommen aus, doch meine Gesprächspartner*innen bleiben ungerührt. Es gibt Wichtigeres zu berichten. Jetzt in der Regenzeit beginnen die lokalen Agrarunternehmen, die Felder bestellen zu lassen. Für die Bewohner*innen der Siedlungen bedeutet das, unter den schädlichen Wirkungen der auf den benachbarten Sojafeldern versprühten Pestizide leiden zu müssen.
Die beiden Gemeinschaften haben sich vor Jahren entlang der Ausfallstraße am Rand der Kleinstadt Tartagal niedergelassen: 24 Familien auf 95 Hektar Land. Die Gemeinschaft lebt in einem permanenten Konflikt um ihr Land – aktuell liegt eine erneute Räumungsklage vor und die Menschen sind akut von Vertreibung bedroht. Das Leben hier ist schwierig, der Alltag von vielen Hürden geprägt. Da es keinen Trinkwasseranschluss gibt, wird Wasser in Plastikkanistern transportiert. Bei genauerem Hinsehen erkennt man darauf den Totenkopf und die Warnung »Veneno«, Gift. Es sind recycelte Pestizidkanister, die die Agrarbetriebe an die Menschen in der Umgebung weiterverkaufen.
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Kurze Zeit zuvor hatte es wieder nächtliche Sprühaktionen direkt neben der Siedlung gegeben. Nancys hochschwangere Tochter erlitt Krampfanfälle, sie musste ins Krankenhaus, wo ein Kaiserschnitt vorgenommen wurde. Ihr Kind kam durch eine Schockreaktion auf Pestizide zur Welt. Wie sieht die Zukunft aus für ein Neugeborenes, das das Licht der Welt unter solchen Vorzeichen erblickt?
Isaías ist bewusst, dass das Leben in einer derart belasteten Umwelt langfristige gesundheitliche Folgen hat. Hier und auch in der nächsten größeren Siedlung Misión Kilómetro 6 berichten die Menschen von Tumorerkrankungen, Atemwegs- und Hautproblemen, von Früh- und Fehlgeburten. Irgendwann beschlossen die Bewohner*innen von Oka Puckie und Quebracho, dass sie genug haben und konfrontierten den Fahrer eines Sprühfahrzeugs, das im Schutz der Dunkelheit auf dem Sojafeld nebenan unterwegs war. Der Subunternehmer, der nichts von der Existenz der angrenzenden Siedlung wusste, hatte ein Einsehen und stellte die Maschine ab – vorerst.
Heute töten sie uns mit Papieren
Die Identität der indigenen Bevölkerung des Chaco wurde durch die historische Erfahrung der Kolonisierung durch die spanische Conquista und später durch den argentinischen Nationalstaat geprägt, erklärt Nancy. Das Eindringen des Agrobusiness und die damit einhergehende Entwaldung in der Region führten zu zahlreichen Konflikten um Landnutzungsrechte und Eigentumstitel, im lokalen Jargon schlicht »papeles« (Papiere) genannt. Die Vertreibungen und die Prekarisierung der indigenen Bevölkerung beschreibt sie als neue Welle der Kolonisierung, als akute Bedrohung: »Wenn du den Wald verlierst, verlierst du deine Kultur. Wenn die Unternehmen kommen und den Wald abholzen, verlieren wir alles. Früher haben sie uns mit Gewehren getötet – heute töten sie uns mit Papieren.«
Ab den 2000er Jahren, in der Zeit des Rohstoffbooms und hoher Weltmarktpreise, wuchs die argentinische Landwirtschaft über die fruchtbare Region der Pampa hinaus und führte zu einer alarmierenden Entwaldung der nördlich gelegenen Chaco-Region. Die Sojafelder fraßen sich in Waldgebiete, die erstmals in landwirtschaftliche Nutzung kamen. Szenen der Zerstörung spielten sich ab, die für viele Bewohner*innen des Chaco einer Apokalypse gleichkamen: Bulldozer, Proteste und Vertreibungen. Das Ende der lokalen Selbstversorgung zerstörte Lebensweisen und Gemeinschaften.
Die widrigen Bedingungen dieser Region haben einst die Spanier davon abgehalten, den gesamten Chaco zu erobern. In der Regenzeit verwandelt sich alles in eine Schlammlandschaft, kleine Landstraßen und Wirtschaftswege werden unpassierbar und viele Dörfer und Höfe sind von der Außenwelt abgeschnitten. Im Sommer herrschen teils Temperaturen über 40 Grad, die das Arbeiten unter freiem Himmel unmöglich machen. Trotzdem wird hier tatkräftig investiert. Riesige, von internationalen Getreidehändlern wie Cargill, Bunge oder Cofco betriebene Silos entstehen entlang der Landstraßen. Die Land-Konzentration hier im Norden ist besonders hoch, Agrarbetriebe mit Zehntausenden Hektar dominieren das Geschäft. Gelegentlich sieht man kleine notdürftige Siedlungen, verlassene Schulen oder Friedhöfe. Sie wirken wie kurze Irritationen zwischen den immensen, monotonen Soja- und Maisfeldern, die sich bis zum Horizont erstrecken. Diese abgelegene und oft als marginal bezeichnete Region ist vollständig an die Wertschöpfungsketten der globalen Nahrungsmittelindustrie angeschlossen.
Das Wachstum der Agrar- und Rohstoffexporte war die finanzielle Rettung für die argentinische Wirtschaft, die sich nach dem Staatsbankrott 2001 rasch wieder sanieren und sich kurzzeitig von der Überschuldung befreien konnte. Mit über 30 Prozent Exportsteuer stellte der Soja-Boom eine lukrative Devisenquelle dar. Doch heute sind die Opfer, die das Soja-Produktionsmodell fordert, kaum mehr zu übersehen. Die Menschen im ländlichen Argentinien organisieren sich und gründen aktivistische Netzwerke wie das der Pueblos Fumigados, der besprühten Dörfer. In Tartagal spielt die Community-Radiostation Voz Indígena eine wichtige Rolle. Besonders die Frauen aus den indigenen Gemeinschaften nehmen hier an Workshops teil und produzieren eigene Radiosendungen. Hier sei sie »aufgewacht«, erzählt Mónica Medina aus Quebracho. Sie lasse sich nicht weiter mit Pestiziden besprühen oder vertreiben.
Verantwortung der Pestizid-Hersteller
Es ist ein kalter Apriltag in der nördlichen Hemisphäre, 12 000 Kilometer entfernt von Tartagal. Im Veranstaltungsraum der Berliner Menschenrechtsorganisation ECCHR sind zahlreiche Gäste versammelt, Vertreter*innen von Partnerorganisationen aus Paraguay, Brasilien, Bolivien und Argentinien und von deutschen Umwelt-Organisationen. Es geht um die Verantwortung der deutschen Bayer AG und um die Forderung, dass der Konzern seiner Sorgfaltspflicht nachkommen solle, um die schädlichen Auswirkungen von Produkten wie Glyphosat für Menschen und Umwelt einzudämmen. Zeitgleich zur Bayer-Aktionärsversammlung Ende April hatte das Bündnis eine Beschwerde bei der deutschen Kontaktstelle für die OECD-Leitsätze eingereicht, begleitet von zahlreichen Informationsveranstaltungen. Es geht um das Technologie-Paket, das Bayer seit der Übernahme des Monsanto-Konzerns vertreibt: gentechnisch verändertes Sojasaatgut und darauf abgestimmte Pestizide. Und es geht um Geschäftspraktiken in einem sozialen Umfeld, das durch das Vordringen des Agrarsektors von zahllosen Konflikten geprägt ist.
1996 wurde als erster gentechnisch veränderter Organismus (GVO) das Sojasaatgut der Firma Monsanto in Argentinien zugelassen und hat sich seither in der gesamten Region ausgebreitet. In die DNA von Monsantos Sojasaatgut (Markenname RoundupReady) wurde ein patentiertes Gen eingefügt, das es gegen das ebenfalls von Monsanto produzierte Herbizid Roundup resistent macht. Das Herbizid, das auf Glyphosat basiert, tötet alle Unkrautpflanzen, lässt jedoch die resistente RoundupReady-Sojabohnenpflanze selbst intakt. Diese Kombination erwies sich als so effizient, dass sie sich als Teil eines technologischen Pakets großflächig durchgesetzt hat. Mit der Ausbreitung der Sojaproduktion in den Ländern Südamerikas stieg dort der Pestizidverbrauch rasant an: Zwischen 1990 und 2017 wuchs er um 500 Prozent. Neben den USA und China sind Brasilien und Argentinien die weltweiten Spitzenverbraucher von Herbiziden wie Glyphosat. 2018 übernahm die deutsche Bayer AG die Firma Monsanto und stieg damit zum Weltmarktführer im Bereich des gentechnisch veränderten Saatguts und zur Nummer zwei im weltweiten Agrarchemiegeschäft auf. Aufgrund der Zunahme Glyphosat-resistenter Unkrautpflanzen werden in Südamerika auch zahlreiche hochgefährliche Pestizide wie Atrazin, Paraquat oder 2,4-D angewendet, die in Europa nicht mehr zugelassen sind, die jedoch von europäischen Chemie-Konzernen noch immer exportiert werden.
Der Beschwerde liegt ein ausführliches Dossier zugrunde, eine akribische Recherche zu den Vertriebsstrukturen von Bayer Crop Science in vier Ländern des Cono Sur (Argentinien, Chile, Uruguay und Paraguay), sowie Berichte und Interviews mit Menschen aus den dortigen ländlichen Regionen, die von Pestizid-Abdrift, verseuchten Gewässern, unbenutzbaren Trinkwasserquellen und gravierenden gesundheitlichen Konsequenzen durch den Kontakt mit Pestiziden berichten. Die Hälfte der gesamten Agrarfläche Argentiniens wird für den Sojaanbau genutzt, dazu kommen riesige Anbaugebiete für gentechnisch veränderten Mais. Auf all diesen Flächen werden Glyphosat und andere Pestizide nahezu unkontrolliert angewendet – im Durchschnitt verbrauchen argentinische Landwirte mit 12 bis 15 Litern die doppelte Menge Pestizide pro Hektar im Vergleich zu den USA. In den Nachbarländern ist es ähnlich.
Abel Areco, der aus Paraguay angereiste Anwalt und Leiter der Organisation BASE-IS, spricht über den Tod Rubén Portillos: Der Kleinbauer aus Colonia Yerutí im Osten Paraguays kam 2011 durch Pestizide ums Leben, 20 weitere Menschen erlitten Vergiftungen. Lokale Landwirtschaftsbetriebe hatten Pestizidbehälter unsachgemäß entsorgt; das Gift gelangte in die Brunnen der benachbarten Anwohner*innen. Arecos Organisation arbeitet seit Jahren mit betroffenen Kleinbäuer*innen und indigenen Gemeinschaften und begleitet viele solcher Fälle. Auch María José Venancio von der argentinischen Menschenrechtsorganisation CELS berichtet von ihrer Arbeit als Anwältin in Santiago del Estero, einer nördlichen Provinz Argentiniens. Während sie von den zahlreichen Konflikten im Zusammenhang mit der Ausbreitung der Agrarunternehmen in ihrer Region spricht, wird sie vom Zorn mitgerissen.
Diese alltägliche Gewalt an Menschen und an der Natur, in vielen kleinen Etappen entlang der Lieferketten für landwirtschaftliche Zusatzprodukte und Nahrungsmittelproduktion, bezeichnet der Autor Rob Nixon als Slow Violence – Menschenrechtsverletzungen durch Verschmutzung und Ressourcenextraktion, die meist keine spektakulären Nachrichten hervorbringen. Es ist eine langsame Gewalt, die sich territorial ausbreitet, die weit entfernt und absolut normalisiert ist. Gewalt, von der viele in Europa kaum etwas ahnen, und die Menschen wie Nancy und Isaías im fernen Tartagal schon lange analysiert haben. Noch bleibt abzuwarten, ob auch die deutsche OECD-Kontaktstelle ihrer Analyse zustimmt.
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