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Sachsen versucht das Experiment
CDU und SPD streben Minderheitsregierung an. Kretschmer soll am 18. Dezember gewählt werden
In Sachsen wollen CDU und SPD erstmals das Experiment wagen, eine Minderheitsregierung zu bilden. »Wir wissen, dass wir keine Mehrheit haben«, sagte CDU-Landeschef Michael Kretschmer bei der Vorstellung des Entwurfs für einen Koalitionsvertrag. Dieser sei auch als »ausgestreckte Hand« in Richtung anderer Fraktionen im Parlament zu verstehen, sagte Kretschmer. SPD-Landeschef Henning Homann sprach von einer »neuen politischen Kultur«. Es sei die Zeit, um Rituale des Gegeneinanders von Regierung und Opposition aufzugeben und verstärkt Kompromisse zu suchen: »Darin besteht die Chance dieser Minderheitsregierung.«
Zunächst war im Freistaat nach der Landtagswahl vom 1. September versucht worden, wie stets bisher eine Mehrheitskoalition zu bilden. Dazu hatte es wochenlange Gespräche mit dem BSW gegeben. Ein solches Dreierbündnis hätte im Landtag mit 66 der 120 Abgeordneten über eine stabile Mehrheit verfügt. Die Wagenknecht-Partei ließ aber die Verhandlungen schließlich platzen. Hauptgrund war, dass man sich nicht auf Formulierungen zur Friedenspolitik einigen konnte.
Danach gab es wenige Alternativen zu einer Koalition ohne eigene Mehrheit. Auf dem Papier bestand zwar die Option eines Viererbündnisses aus CDU, SPD, Grünen und Linke, das auf 64 Stimmen käme. Doch zur Linken hat die CDU einen Unvereinbarkeitsbeschluss gefasst, und zwischen CDU und Grünen herrscht nach einer aggressiven Wahlkampagne Kretschmers gegen die Ökopartei Eiszeit. Eine klare Mehrheit gäbe es mit der AfD, doch mit der, wie er sagt, »in Teilen rechtsextremen« Partei will Kretschmer nicht regieren.
Nun haben sich CDU und SPD in gut zweieinhalb Wochen auf die Eckpunkte für den Koalitionsvertrag für eine Minderheitsregierung geeinigt. Dieser sieht unter anderem deutliche Verschärfungen beim Thema Asyl vor. So sollen Leistungskürzungen möglich sein, wenn Asylbewerber die Aufnahme gemeinnütziger Arbeit verweigern. Abschiebungen von Flüchtlingen aus sicheren Drittstaaten sollen auch direkt aus Erstaufnahmeeinrichtungen möglich sein. Zudem soll es ein Pilotprojekt für »vollziehbar ausreisepflichtige Personen« geben, womit ein sogenanntes Ausreisezentrum gemeint sein dürfte. Kretschmer betonte, das Thema sei vielen Menschen in Sachsen wichtig. Mit den jetzt beschlossenen Maßnahmen werde »Politik aus der gesellschaftlichen Mitte heraus« betrieben.
Auch die von Kretschmer im Wahlkampf geforderte Grenzpolizei mit 300 Beamten soll kommen. Die Polizei soll Bodycams, denen die SPD einst generell skeptisch gegenüber stand, künftig auch in Wohnungen nutzen dürfen, zudem soll es befristete Befugnisse für die präventive Telefon- und Onlineüberwachung (sogenannte Quellen-TKÜ) geben, um Kriminalität und Terrorismus besser bekämpfen zu können.
»Dieser Vertrag ist eine ausgestreckte Hand.«
Michael Kretschmer CDU-Landeschef Sachsen
Zu den Erfolgen für die SPD dürfte gehören, dass ein gesetzlicher Anspruch auf drei Tage Bildungsfreistellung pro Jahr eingeführt wird. Ein von der SPD unterstützter Volksantrag mit 55 000 Unterschriften hatte fünf Tage gefordert, die CDU war bisher strikt dagegen. Sachsen ist derzeit neben Bayern das einzige Bundesland ohne entsprechenden Anspruch.
Zu den sozialen Vorhaben der Koalition gehört auch der Ausbau des letzten Kita-Jahrs zu einem verpflichtenden kostenfreien Vorschuljahr. Zudem hat die SPD durchgesetzt, dass der Sozial- und Kulturbereich bei der anstehenden Haushaltssanierung geschont wird. Ob das gelingt, ist offen. Kretschmer sagte, im Etat von 23 Milliarden jährlich gebe es 2,3 Milliarden Euro Konsolidierungsbedarf. Um Spielraum zu gewinnen, sollen die Zuführungen zu einem Pensionsfonds für Beamte um 270 Millionen reduziert werden. Solange der Landtag keinen Etat beschlossen hat, befindet sich der Freistaat in der vorläufigen Haushaltsführung. Die Verwaltungsvorschrift dafür soll am Dienstag im Kabinett beschlossen werden. SPD-Chef Homann suchte Sorgen vor einem Kahlschlag bei Kultur-, Sozial- und Demokratieprojekten zu dämpfen. Seine Partei sehe sich bei dem Thema in einer »Schutzfunktion«.
Der jetzt vorgestellte Vertragsentwurf muss in beiden Parteien gebilligt werden. Die CDU plant dazu einen Parteitag am 14. Dezember, die SPD eine Befragung ihrer gut 4500 Mitglieder, die bis 13. Dezember abgeschlossen sein soll. Gibt es jeweils Zustimmung, soll am 18. Dezember im Landtag der Ministerpräsident gewählt werden. Im ersten Wahlgang bräuchte der von der CDU erneut aufgestellte bisherige Amtsinhaber Kretschmer alle Stimmen der Koalitionäre und mindestens zehn weitere, um die nötige absolute Mehrheit zu erreichen. Ab dem zweiten reicht die einfache Mehrheit.
Für Gespräche darüber, wo die notwendigen Stimmen eingesammelt werden können, will die CDU nach der Entscheidung beider Parteien auf BSW, Grüne und Linke zugehen. Kretschmer erklärte, man hoffe auf Zusammenarbeit, »auch wenn es keine Duldung oder Tolerierung gibt«. Das BSW und die Linke machen Zustimmung von inhaltlichen Zugeständnissen abhängig. Susanne Schaper, Fraktionschefin der Linken, fordert verbindliche Zusagen, dass es keine Kürzungen im sozialen und Kulturbereich gibt. Die Grünen verweigern sich bisher. Wenn sich Kretschmer zur Wahl stelle, »kann es von uns Bündnisgrünen aus heutiger Sicht nur ein Nein geben«, sagte die bisherige Justizministerin Katja Meier kürzlich.
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