Neukölln-Komplex: Haftstrafen für Neonazis

Neonazis sollen Brandanschläge auf Antifaschisten verübt haben

  • Jule Meier
  • Lesedauer: 5 Min.
Ferat Koçak (Linke) bei einer Demonstration anlässlich der Sitzung des Untersuchungsausschusses »Neukölln« vor dem Abgeordnetenhaus.
Ferat Koçak (Linke) bei einer Demonstration anlässlich der Sitzung des Untersuchungsausschusses »Neukölln« vor dem Abgeordnetenhaus.

Wie viele Beweise es noch bräuchte, um die Schuld der Neonazis Sebastian T. und Tilo P. festzustellen, fragt der Anwalt Lukas Theune am Donnerstag vor Gericht. Theune ist der verteidigende Anwalt von Ferat Koçak, der in dem Berufungsprozess zum »Neukölln-Komplex« zugleich Opfer und Nebenkläger ist. Vor dem Berliner Landgericht stehen die Neonazis Tilo P. (38) und Sebastian T. (41), die in der ersten Instanz freigesprochen wurden. Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, in der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar die Autos von dem Buchhändler Heinz Ostermann und dem Linke-Abgeordneten Koçak angezündet zu haben. Der Brand an Koçaks Auto ist nur durch Glück nicht auf sein Wohnhaus und das seiner Familie übergesprungen.

Die Staatsanwaltschaft fordert für die beiden Hauptangeklagten mehrjährige Haftstrafen. Für Tilo P., früherer AfD-Politiker, forderte sie eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sieben Monaten. Hinzu kam ein Haftbefehl für P., für den kein fester Wohnsitz vorzufinden ist. Für den früheren NPD-Kader Sebastian T., der inzwischen beim »Dritten Weg« aktiv sein soll, forderte sie eine Haftstrafe in Höhe von vier Jahren. Die vorsitzende Richterin verurteilt T. zu einer Strafe von drei Jahren und sechs Monaten. P. bekommt eine Strafe von zwei Jahren und zehn Monaten

In erster Instanz wurden T. und P. wegen Sachbeschädigung und im Falle des älteren T. wegen Betruges verurteilt, weil dieser zu Unrecht Geld vom Jobcenter und Corona-Hilfen bezogen hatte. Sie hatten in Berlin Schmierereien und Aufkleber zum Gedenken an den NS-Kriegsverbrecher Rudolf Heß mitsamt SS-Runen angebracht.

In seinem Plädoyer listete Anwalt Theune auf, was auch die Staatsanwaltschaft in ihrem zuvor dreistündigen Plädoyer als Beweislage aufführte, um T. und P. des Brandanschlags schuldig zu sprechen. Fest steht, dass Koçak über mindestens ein Jahr von den Neonazis ausgespäht wurde. Das beweisen Dutzende Chatverläufe zwischen T. und B., die eine Ermittlungsgruppe der Polizei ausgewertet hat, die die Neonazis seit 2017 beobachtet hatte. Fest steht, dass es den Neonazis bereits am 15. Januar 2018 gelungen war, sowohl die Adresse als auch das Kennzeichen von Koçaks Auto herauszufinden. Fest steht auch, dass sich T. und P. sowohl in Telefonaten als auch in Chats über Koçak austauschten. Diesen sind rassistische Beleidigungen als auch Androhungen von Gewalt zu entnehmen. Fest steht darüber hinaus, dass Koçaks Adresse zigfach bei Google Maps von den Angeklagten eingegeben wurde.

In seinem Plädoyer sagt Koçak, dass er jeden Tag sehe, wie der Anschlag ihm und seiner Familie ein Stück ihres Lebens nehme. Angst bestimme seit dem 1. Februar 2018 sein Leben. »Wenige Minuten später, und meine Eltern wären gestorben, wie die Gastarbeiter in Mölln«, sagt er. Seit jener Nacht nutzt Koçak die Öffentlichkeit als Schutz, um seine Angst einzudämmen. Er sagt, er sei dreimal Opfer eines Anschlags geworden: Das erste Mal am 1. Februar 2018, das zweite Mal, als er erfuhr, dass die ermittelnden Behörden bereits vor dem 1. Februar 2018 wussten, dass er von den Neonazis observiert wurde und das dritte Mal, als die Richterin T. und P. in erster Instanz freisprach.

»Wenige Minuten später, und meine Eltern wären gestorben, wie die Gastarbeiter in Mölln.«

Ferat Koçak Nebenkläger im Neukölln-Prozess

Gregor Samini, der verteidigende Anwalt von Sebastian T., sagt in seinem Plädoyer, es gäbe gar keine Beweise, dass sein Mandat die Brandstiftung begangen habe. Stattdessen gäbe es lediglich Indizien. Er wurde nicht beobachtet, wie er das Haus angezündet der Brandsätze gekauft habe. Samini gesteht ein, dass sein Glaube an die Fähigkeit des Staatsschutzes durch den Fall geschwächt wurde. Zwei Beamte des Staatsschutzes hatten in einer Befragung gesagt, dass sie gar nicht wüssten, wer der Nazi-Kriegsverbrecher Rudolf Heß sei.

Carsten Schrank, der zweite Verteidigende von Sebastian T., sagte in seinem Plädoyer, sein Mandant sitze nur vor Gericht, weil ihm »diese Rolle als Neuköllner Rechtsextremist« zugeschrieben werde. Die überwachende Arbeit der Ermittlungsbehörden bezeichnet er als »Überwachung, die wir nur aus totalitären Staaten kennen«. Er meint, dass für die Brandanschläge auf Koçak und Ostermann nur Dritte verantwortlich gewesen sein können, die an die Daten der Geschädigten gekommen sein müssten.

Eine Kundgebung unterstützt Ostermann und Koçak vor dem Kriminalgericht in der Turmstraße. Neben verschiedenen antifaschistischen Gruppen beteiligt sich auch die Linke Neukölln daran. Laut ihrem Aufruf reiche der Neukölln-Komplex noch viel weiter als das, was vor Gericht verhandelt werde. »Es fanden auch die zwei Morde an Burak Bektaş und Luke Holland zur Hochphase der Serie in Neukölln statt, deren Motivation als rassistisch/extrem rechts zu begreifen ist.« Die Linke Neukölln erstaune nicht nur der späte Zeitpunkt des Prozesses, die geringe Anzahl an Vorwürfen, sondern auch, dass nur zwei Neonazis vor Gericht stehen, obwohl offensichtlich sei, dass hinter den Taten weitere Täter und Netzwerke stehen.

Die Linke Neukölln schreibt ferner: »Es bleibt rätselhaft, warum die Generalstaatsanwält*innenschaft während des Prozesses so wenig kritische Nachfragen gestellt hat, obwohl die Berufung von ihrer Initiative ausging. Weiterhin werden die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes zurückgehalten, was selbst die Richterin beklagt.«

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