Fußball als einende Kraft

Nach dem Ende der Diktatur in Syrien sortiert sich auch der Sport neu. Die Aufarbeitung beginnt

  • Ronny Blaschke
  • Lesedauer: 5 Min.
Liga-Alltag in Syrien vor dem Umsturz: Spieler von Hutteen Latakia (blau) und Taliya Hama (rot)
Liga-Alltag in Syrien vor dem Umsturz: Spieler von Hutteen Latakia (blau) und Taliya Hama (rot)

Während des Bürgerkrieges in Syrien gewann der Fußballverein Tishreen aus der Hafenstadt Latakia dreimal die Meisterschaft. Viele Fans des Klubs sind Alawiten, gehören also derselben Minderheit an wie die langjährige Herrscherfamilie Al-Assad. Lange fungierte Fawaz Al-Assad der Ehrenpräsident von Tishreen. Der Cousin des Diktators Baschar fuhr gern mit einem Cabrio ins Stadion ein, begleitet von Soldaten und Gewehrschüssen.

Von einer Nähe zur alten syrischen Machtelite ist nun bei Tishreen nichts mehr zu sehen. Anfang der Woche, nach dem Sturz des Regimes, veröffentlichte der Klub Fotos von zwei ehemaligen Spielern. Sie zeigen, wie Ziad Adschouz und Al-Mouttaleb Zartit in Schutzwesten hinter den Meisterschalen posieren. Beide hatten den Fußball vor langer Zeit aufgegeben, um mit den Rebellen gegen die Diktatur zu kämpfen.

»Die Gefühle von Freude und Aufbruch sind auch im Sport zu spüren«, sagt der aus Syrien stammende Fußballexperte Nadim Rai, der seit bald zehn Jahren in Deutschland lebt. »Die Strukturen werden sich grundlegend ändern. Aber es wird Jahre dauern, um die Instrumentalisierung im Fußball aufzuarbeiten.«

Nadim Rai hat in den vergangenen Tagen wenig geschlafen. Er hat mit Freunden in Syrien telefoniert, darunter Fußballfans, die jubelnd durch die Straßen zogen, mit Fahnen, Gesängen, Feuerwerkskörpern. Rai hat stundenlang in sozialen Medien recherchiert. Dabei ist er auf ein Foto von Salim Khadra gestoßen, einen seiner Lieblingsspieler aus Jugendzeiten. Khadra war in die Türkei geflohen und erwägt nun offenbar eine Rückkehr nach Syrien.

»Der Fußball kann in Syrien zu einem Symbol der Einheit werden«, glaubt Nadim Rai. »Aber dafür muss der Verband Vertrauen zurückgewinnen. Die Menschen werden genau beobachten, wer demnächst für die Nationalmannschaft spielt und wer nicht.«

Von einer Nähe zur alten Machtelite ist nun nichts mehr zu sehen.

Über viele Jahre war das Nationalteam ein Sinnbild für die Spaltung der syrischen Gesellschaft. Besonders deutlich wurde das bei der Westasienmeisterschaft 2012, ein Jahr nach Beginn des Bürgerkrieges. Im Finale in Kuwait besiegte Syrien den Irak 1:0. Im Stadion standen sich zwei verfeindete Fankurven derselben Mannschaft gegenüber. Die einen schwenkten die Fahnen der syrischen Rebellen, die anderen standen hinter Al-Assad.

Unmittelbar nach jenem Endspiel zog der syrische Spieler Omar Al-Somah das rote Nationaltrikot aus und streifte sich ein weißes T-Shirt der Rebellen über. Er spielte fünf Jahre nicht mehr für Syrien, kehrte dann aber 2017 bei den entscheidenden Qualifikationsspielen für die WM 2018 in die Nationalmannschaft zurück. Al-Somah, der zu jener Zeit in Saudi-Arabien kickte, reiste sogar nach Damaskus zu einem Empfang von Al-Assad. Wurde Omar Al-Somah von der Regierung unter Druck gesetzt? Waren seine Familie und seine Freunde in Gefahr? »Die Grenzen zwischen Staatsdienern, Mitläufern und Rebellen waren manchmal fließend«, sagt Nadim Rai. So soll Omar Al-Somah vor der Rückkehr ins Nationalteam seinen Einfluss genutzt haben, um seinen ehemaligen Mitspieler Mohammad Kneis aus dem Gefängnis freizubekommen. Nun, nach dem Sturz des Regimes, schrieb Al-Somah in sozialen Medien: »Glückwunsch an die Syrer und herzliches Beileid an die Gefallenen unter dem Regime. Es lebe das freie Syrien.«

Lange war im Fußball das Gedenken an die Kriegsopfer verboten. Die Lage ist unklar, doch nach Schätzungen mehrerer Exilanten sollen mehr als 40 Spieler aus den ersten beiden syrischen Ligen während des Krieges getötet worden sein. Dem ehemaligen Nationalspieler Jihad Qassab etwa wurde die Konstruktion von Autobomben vorgeworfen – was er bestritt. Qassab ist 2016 nach schwerer Folter im Militärgefängnis Saidnaya gestorben. Biografien wie diese werden nun – ohne Angst vor Verfolgung – intensiv in sozialen Medien diskutiert. Fans erinnern zum Beispiel an Abdul Baset Al-Sarout. Als erster bekannter Fußballer stellte er sich schon 2011 gegen Al-Assad und trat der Freien Syrischen Armee bei. Diese FSA gründete in der Türkei ihren eigenen Fußballverband. Abdul Baset Al-Sarout, derAl-Qaida nahegestanden haben soll, kam 2019 bei Gefechten ums Leben.

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Geflüchtete Spieler, Funktionäre und Sportjournalisten knüpften insbesondere in der Türkei ein Exilnetzwerk. Von dort trugen sie Informationen zusammen: über die Teilnahmepflicht von Sportlern an politischer Propaganda oder Verhaftungen von Fußballern. Ein Beispiel: Der langjährige syrische Nationaltorwart Mosab Balhous wurde 2011 von Regierungstruppen verhaftet, weil er Rebellen Zuflucht geboten haben soll. Fast ein Jahr fehlte von ihm jede Spur, viele Fans hielten ihn für tot. 2012 kehrte er überraschend ins Nationalteam zurück.

Trotz dieser politischen Verflechtungen sanktionierte die Fifa den syrischen Fußballverband nicht. Während des Krieges ließ Al-Assad den Ligabetrieb in den vermeintlich sicheren Städten Damaskus und Latakia fortsetzen. Zugleich wurden Stadien in Aleppo und Homs als Militärbasen, Gefängnisse oder Flüchtlingslager genutzt. Aus dem Abbasiden-Stadion in Damaskus wurden Raketen abgefeuert.

Baschar Al-Assad zeigte sich selten auf den Ehrentribünen, und trotzdem stützte der Fußball seine Agenda. Erst vor einem Monat trat das Nationalteam in Wolgograd in einem Freundschaftsspiel gegen Russland an, in jenem Land also, wo Al-Assad inzwischen von seinem Verbündeten Putin Asyl erhielt. Es ist gut möglich, dass die führenden Funktionäre des syrischen Verbandes demnächst ihren Job verlieren, glaubt Nadim Rai. Doch ähnlich wie in der Politik scheint die Machtübergabe auch im Fußball relativ geordnet zu verlaufen.

Viele Fans haben weniger Geduld und fordern den Ausschluss von Spielern, die sich für Al-Assad positioniert haben. Im Fokus: Nationaltorwart Ibrahim Alma. Bei einem Trainingsaufenthalt der syrischen Auswahl 2018 in Österreich soll Alma einen Ordner aufgefordert haben, einen Fan mit einem Rebellenbanner aus dem Stadion zu verweisen. Zweimal sollen Vereine in Saudi-Arabien die Verpflichtung Almas abgelehnt haben, weil er sich immer wieder mit Vertretern des syrischen Regimes zeigte.

Das letztes Spiel vor Heimpublikum hat die Nationalelf 2010 in Damaskus gegen den Irak bestritten. Seither wird in Katar oder in den Emiraten gespielt. Gerade hat der Asiatische Fußballverband die Spieltermine fürs Frühjahr bekannt gegeben, dazu die Flagge des alten Regimes. Fans waren empört, denn auch der syrische Verband hat schon ein neues Logo. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis Heimspiele auch tatsächlich wieder zu Hause stattfinden.

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