- Kultur
- Ausstellung in Berlin
»Böse Blumen«: Verwesen der Werte
Die Sammlung Scharf-Gerstenberg in Berlin inszeniert die Gedichte von Charles Baudelaire als bizarre Blumenschau
Wer einen grünen Daumen hat, könnte anzunehmen versucht sein, »Die Blumen des Bösen« (1857) stammten von Gärtner Pötschke. Doch der Gedichtband von Charles Baudelaire (1821–1867) hat mit Schrebergärten herzlich wenig zu tun. Tatsächlich kommen in ihm fast keine Blumen vor; mal eine Rose, mal eine Lilie oder ein Gänseblümchen (»O bleiches Gänseblümchen!«), ein Hahnenfuß (»das Haupt ruht … / auf dem Nachttisch wie ein Hahnenfuß«) und, ja, »der duftende Lotus«. Nicht viel für 151 Gedichte. Der Titel ist also, wie wir alten Rhetoriker sagen, »metaphorisch« gemeint. Deshalb ist der Coup, aus einer diesem Buch gewidmeten Ausstellung eine große Blumenschau zu machen, zunächst nichts anderes als ein Kalauer.
Kalauer sind, wie der Dichter Konrad Bayer sagte, »Leckerbissen«, und das trifft auch auf diesen zu. Die Berliner Sammlung Scharf-Gerstenberg reizt den Scherz voll aus. Unter Leitung von Kyllikki Zacharias bietet sie mehr bizarre Gewächse als selbst das »Dahlienfeuer« des Britzer Gartens. Da sind die »Fleurs du Mal« (1969) von Otto Piene, dreizehn schwarze Plastikblumen, die sich in einem Stroboskopgewitter mannshoch aufrichten; »inflatable dolls«, mit Roxy Music gesprochen. Da ist der an eine »Vagina dentata« erinnernde »Cactus 2« (2023) von Julius von Bismarck oder die wie verletzt wirkende Frucht oder Kapsel von Alexandra Hendrikoff (»SHE«, 2021). Da gibt es floral geformte und ornamentierte Vasen aus dem Fin-de-siècle oder auch, aus derselben Epoche, Kitschblumen auf Glanzbildern (Oblaten). Besonders beeindruckend ist ein Feld mit vertrockneten Baumwollpflanzen von Fatoş Irwen (»The Harvest of Time«, 2023). Die Künstlerin hat um deren Köpfchen Haare ihrer Leidensgefährtinnen im Gefängnis von Diyarbakir gewunden. Und die Ausstellung hat noch mehr seltsame Blüten zu bieten. Allerdings haben sie mit Baudelaire weiter nichts zu tun.
Dem Dichter kommt die Ausstellung näher, wenn sie das zweite Hauptwort seines Titels anschneidet: das Böse. Das Böse ist eine Kategorie, die unserer Zeit nicht mehr angehört. Heute werden dieselben Gräuel von den einen für Kriegsverbrechen, von den anderen für eine zivilisatorische Mission gehalten und von Dritten mit einem Achselzucken quittiert. In Baudelaires Zeit löste sich die Übereinkunft darüber, was gut, was böse ist, gerade erst auf. Unter dem Druck der Kapitalisierung und Technisierung sämtlicher Verhältnisse zerbröselten die alten Werte und drängten sich neue auf. Aber, und das ist entscheidend, während sich die neuen Werte schon zeigten, waren die alten im Bewusstsein ja zum Teil noch in Kraft.
Gerade weil er selbst kein Moderner, sondern ein zynischer Katholik war, war Baudelaire in der Lage, die aufkommende Moderne zu porträtieren. Auf ihre neue Weise fasste er das in ihr verfallende Alte. Und für diesen Verfall fand er modrige Bilder: »An der Biegung eines Pfads ein widerliches Aas / Auf einem Bett von hingestreuten Kieseln, // Die Beine in der Luft wie eine geile Frau, / Gifte vergärend und ausschwitzend«. Unwillkürlich denkt an dieses Gedicht, wer vor dem »Großen Migof-Labyrinth« (1966) von Bernard Schultze steht. Verwest wirkende Gestalten und vegetabilische Formen reizen auf und ekeln an. Eine feinere Assoziation zum Komplex des Verfalls bietet »Bouncing an Echo« (2003) des Dichters und Künstlers Schuldt. Die Fotografien zeigen Hände chinesischer Schaufensterpuppen. Ihre inzwischen leichengrüne Lackierung ist abgeblättert und legt einen rötlichen Kunststoff frei. Der Verfall offenbart etwas Unerhörtes, Obszönes und Erschreckendes – das ist der Sinn von Baudelaires »Aas«.
Gerade weil er selbst kein Moderner, sondern ein zynischer Katholik war, war Baudelaire in der Lage, die aufkommende Moderne zu porträtieren.
Indem die alten Werte und Gestalten verfaulen, verfallen auch einst streng eingehaltene Grenzen. Die vielen erotischen Anspielungen bei Baudelaire werden von Félicien Rops’ pornografischen Radierungen aus den 1880er Jahren weit übertroffen. So drastisch ist Baudelaire nirgendwo, auch wenn er, wie zur selben Zeit der Romancier Gustave Flaubert, wegen Unsittlichkeit vor den Kadi gezerrt worden ist. Mitte des 19. Jahrhunderts hielt man für anstößig, was heute gar nicht mehr auffiele.
Bedauerlicherweise greift die Ausstellung nicht auf den Grundstock der »Blumen« zurück, 26 Gedichte, die der erst 24-jährige Dichter unter den Titel »Die Lesbierinnen« stellte. In dem gerichtlich verbotenen Gedicht »Lesbos« malt sich Baudelaire nicht nur die heißen Küsse verliebter Lesben aus, sondern fragt auch: »Was gehen uns Gesetze von Recht und Unrecht an?« Und das ist eben der Punkt: Was gestern böse war, ist heute gleichgültig. Mitte des 19. Jahrhunderts war diese Einsicht revolutionär, heute ist sie banal.
Es wirkt deshalb etwas gezwungen, Bilder neuer böser Blumen heranzuzerren. Zu sehen sind die attackierten Twin Towers am 11. September, das bunt leuchtende Coronavirus oder auch Bildmaterial der Nazisse (oder Narzisse) Leni Riefenstahl. Ist das böse? Ebensogut könnte man fragen: Ist das schön? Denn mit dem Bösen ging auch das Schöne flöten. Baudelaire hat das gespürt, aber in Verse gefasst hat es erst ein Jüngerer, Stéphane Mallarmé. Odilon Redon, der später auch Mallarmés »Würfelwurf« (1897) illustrierte, hat zu den »Blumen des Bösen« Radierungen geschaffen, die der geheime Höhepunkt der Schau sind (in dem empfehlenswerten Katalog sind sie übrigens besser zu studieren als im Original). Redon deutet überall nur an, lässt vieles ins Dunkel sinken, sprengt die Köpfe der Figuren auseinander oder gräbt sie ein wie Samuel Beckett in »Glückliche Tage« (1960). Irgendwann, so ahnt man, wird auch über diesen düsteren Landschaften das Neonlicht der Moderne aufstrahlen, aber noch bereitet sich das erst in einem »vielgestaltigen, pausenlosen Albtraum« vor.
»Böse Blumen. Baudelaires ›Fleurs du Mal‹ und die Kunst«, bis 4. Mai 2025 in der Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schloßstraße 70, Berlin. Der Katalog erschien bei Sandstein, Dresden, 176 Seiten, br., 38 €.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.