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Nach Assads Sturz kommen die Verbrechen ans Licht
Rechtsexperten machen sich Sorgen wegen der Vernichtung von möglichen Beweisen für Verbrechen in Syrien
Die syrische Zivilschutzorganisation Weißhelme hat nach eigenen Angaben Leichen und Leichenteile in einem Medikamentenlager in einem Vorort der Hauptstadt Damaskus entdeckt. Der Weißhelme-Vertreter Ammar Al-Salmo erklärte am Mittwoch gegenüber der Nachrichtenagentur AFP, in einem Kühlraum hätten Leichen gelegen, einige offenbar seit mehr als anderthalb Jahren, auch Knochen hätte man verteilt auf dem Boden gefunden. Al-Salmo geht von mehr als 20 ermordeten Menschen aus. Mittels DNA-Tests solle nun versucht werden, die Identität der Opfer zu klären und ihre Familien zu benachrichtigen.
Nach und nach werden die Verbrechen des Assad-Regimes sichtbar, das über ein halbes Jahrhundert über Syrien geherrscht hat. In den vergangenen Tagen sind außerhalb der syrischen Hauptstadt regelrechte Massengräber entdeckt worden. Der Leiter einer in den USA ansässigen syrischen Organisation, der Syrian Emergency Task Force, sagte am Montag, dass ein Massengrab die Leichen von mindestens 100 000 Menschen enthalte, die von der ehemaligen Regierung des gestürzten Präsidenten Baschar Al-Assad getötet worden sind. Muaz Mustafa sagte in einem Telefoninterview mit der Nachrichtenagentur Reuters, dass die Stätte in Al-Qutaifah, 40 Kilometer nördlich der syrischen Hauptstadt, eines von fünf Massengräbern sei, die er im Laufe der Jahre identifiziert habe.
Beweismaterial verschwindet täglich
Schätzungen zufolge wurden seit 2011, als Assads Niederschlagung der Proteste gegen seine Herrschaft zu einem regelrechten Bürgerkrieg ausartete, Hunderttausende von Syrern getötet. Nun gilt es, die Beweise zu sichern für die schweren Menschenrechtsverbrechen des Assad-Regimes. Eine leichte Aufgabe ist das nicht. In Syrien verschwindet täglich mögliches Beweismaterial für Verbrechen des abgesetzten Regimes und anderer Akteure gegen die Bevölkerung.
Eine 2016 von den Vereinten Nationen eingesetzte Expertengruppe will möglichst bald selbst vor Ort helfen, solches Material zu sichern, wie ihr Vorsitzender Robert Petit sagte. Mit dem Fall der Assad-Regierung bestehe nun die Chance, an den Tatorten Beweismaterial zu sammeln. Der frühere kanadische Staatsanwalt hat die syrischen Botschaften bei den Vereinten Nationen in New York und Genf um Einreisegenehmigungen für sein Team gebeten.
Syrer sollten Aufarbeitung selbst leiten
Die Übergangsregierung sei sich bewusst, wie wichtig es ist, Material zu sichern, sagte Petit. Er habe auch eine lange Liste mit den Namen von möglichen Tätern, die teils ins Ausland geflohen seien. Die Expertengruppe ist unter dem Kürzel »IIIM« bekannt. Es handelt sich um einen internationalen, unparteiischen und unabhängigen Mechanismus, der Beweise für Verbrechen sammeln soll, die seit Beginn des Bürgerkriegs im März 2011 in Syrien begangen wurden.
Das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) arbeitet seit 2012 an der völkerstrafrechtlichen Aufarbeitung der Verbrechen in Syrien und sieht nun durch den unerwarteten Sturz des langjährigen Präsidenten Baschar Al-Assad die einmalige Chance, die Täter vor Gericht zu bringen. »Aber der gesamte Prozess sollte von der syrischen Gesellschaft angeführt werden«, sagte ECCHR-Generalsekretär Wolfgang Kaleck bei einem Pressegespräch am Mittwoch. In den vergangenen 14 Jahren wurden zahlreiche Beweise gesichert und gesammelt, auch von deutschen Strafverfolgungsbehörden, die zum Beispiel mit syrischen Gerichten geteilt werden könnten, erklärte Patrick Kroker, der für ECCHR als Nebenklagevertreter in Verfahren gegen Regimefunktionäre oder Hisbollah-Mitglieder aufgetreten ist. Derzeit laufen Prozesse in Hamburg, Frankfurt am Main und Stuttgart.
Keine Aussicht auf ein Sondertribunal
An ein internationales Sondertribunal für die in Syrien begangenen Verbrechen sei nicht zu denken, sagte Kaleck, denn Russland blockiere eine solche Initiative im UN-Sicherheitsrat. Doch dank des Instruments der universellen Gerichtsbarkeit könnten mutmaßliche Straftäter auch in einem Drittstaat verfolgt werden, so wie in Deutschland bereits geschehen.
Vor allem komme es darauf an, die Gerichtsbarkeit in Syrien zu stärken, meinte Wolfgang Kaleck, denn Prozesse wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien extrem komplex. Joumana Seif, die für ECCHR als Legal Advisor tätig ist, sieht hier eine Rolle für die syrische Zivilgesellschaft. Zivilgesellschaftliche Akteure im Exil hätten Strategien zur Bewältigung der Transition entwickelt, zum Beispiel für juristische oder verfassungsrechtliche Reformen: »Wir stehen bereit, mit unserem Fachwissen und unseren Ressourcen unseren Anteil dazu beizutragen.«
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