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Siegerin über die Täter
Gericht in Avignon in Südfrankreich verhängt lange Haftstrafen in Vergewaltigungsprozess
Dominique Pelicot, der 72-jährige Ex-Ehemann des gleichaltrigen Opfers, ist am Donnerstag in Avignon zu der von der Staatsanwaltschaft beantragten Höchststrafe von 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die 50 weiteren Angeklagten, die zwischen 26 und 74 Jahre alt sind, erhielten Haftstrafen zwischen drei und 20 Jahren.
Alle sind von den fünf Berufsrichtern der Vergewaltigung für schuldig befunden worden. Die Schwere des Urteils wurde danach gestaffelt, inwieweit der einzelne Täter kooperativ war, seine Schuld eingestand und im Prozess glaubhaft machen konnte, dass er die Tat bereut und das Opfer um Verzeihung gebeten hat.
In dem Verfahren, das seit Anfang September lief und nicht nur großes Publikumsinteresse fand, sondern vor Ort auch von 100 nationalen und 86 Medien aus dem Ausland verfolgt wurde, ging es um einen beispiellosen Fall von wiederholten Vergewaltigungen eines mit Schlafmitteln betäubten Opfers.
Aufgedeckt durch einen Zufall
Der Fall kam ans Licht, nachdem Dominique Pelicot 2020 in einem Textilladen dabei beobachtet worden war, wie er mit dem Handy Kundinnen unter dem Rock fotografiert hatte. Die herbeigerufene Polizei informierte die Staatsanwaltschaft, die ein Untersuchungsverfahren einleitete. Dabei wurde auch der Computer des Täters untersucht. Dort fanden die Kriminalisten eine große Zahl von Videos, die die offensichtlich betäubte Ehefrau Gisèle im Bett mit wechselnden Männern zeigte, die sich an ihr vergingen. Sie selbst erfuhr erst auf der Polizeiwache, was ihr Mann ihr über Jahre angetan hatte. Sie glaubte 50 Jahre lang, eine glückliche Ehe zu führen, mit drei Kindern und sieben Enkeln. All das zerbrach.
Da Dominique Pelicot über die Vergewaltigungen, die von 2010 bis 2020 stattfanden, sorgfältig Buch führte, konnten 50 Mittäter ausfindig gemacht und angeklagt werden. Der Ehemann hatte sie über eine Internetseite für Interessenten an Sexspielen mit mehreren Partnern kontaktiert und ihnen seine Frau kostenlos angeboten.
Skrupellose Mittäter
Im Prozess zeigte sich, dass kein einziger der Mittäter Skrupel bekam, als er vor Ort feststellen musste, dass die ihm angebotene Frau tief schlief oder bewusstlos war. Die meisten waren nur einmal bei den Pelicots, nur ein Mittäter kam ein halbes Dutzend Male wieder.
Vor Gericht behaupteten viele, sie hätten geglaubt, dass sich Frau Pelicot nur verstellt und dies zu den Sexspielen des Ehepaars gehört habe. Nur einzelne Täter räumten ein, sie hätten begriffen, dass es sich hier um eine Vergewaltigung handelte.
Gisèle Pelicot wollte keinen Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Dagegen versuchten die meisten Angeklagten, ihre Schuld kleinzureden. Mehr als die Hälfte der Angeklagten gab an, »nicht bei vollem Bewusstsein« gewesen zu sein. Etliche behaupteten, sie seien von Dominique Pelicot manipuliert und unter Druck oder möglicherweise selbst unter Drogen gesetzt worden. Das ging so weit, dass 32 der 50 Täter ihre Verteidiger auf Freispruch plädieren ließen. Staatsanwältin Laure Chabaud erklärte: »Im Jahr 2024 kann niemand mehr sagen: Sie hat nichts gesagt, also war sie einverstanden.« Eine »unabsichtliche Vergewaltigung«, die viele Angeklagte anführten, gebe es nicht.
Antoine Camus, der Anwalt von Gisèle Pelicot, erklärte in seinem Plädoyer: »Alle haben, zumindest als sie dieses Horrorhaus verließen, verstanden, dass andere vor ihnen kamen und andere folgen würden.« Jeder Täter habe »zu dieser Monstrosität, zu diesem Martyrium dieser Frau beigetragen.« Sämtliche von Dominique Pelicot einbezogenen Männer hätten entschieden, einen Körper zu missbrauchen, »der keine Einwilligung geben konnte«.
Opfer wollte bewusst öffentlichen Prozess
Gisèle Pelicot, die die Zahl ihrer Vergewaltigungen auf bis zu 200 schätzt, zeigte sich erschüttert, wie wenig Schuldbewusstsein viele der Angeklagten hatten und wie feige sie sich vor Gericht verhielten. Ihr stand während des ganzen Prozesses ihre Tochter Caroline Darian zur Seite und fungierte oft auch als ihre Sprecherin gegenüber Journalisten. Als Zeugin sagte die Tochter vor Gericht aus, dass sie ihren Vater im Verdacht habe, dass er auch sie betäubt und missbraucht hat. Doch da es hierzu weder Videos noch Notizen gab, konnte das nicht nachgewiesen werden.
Großes Aufsehen hat der Prozess dadurch erregt, dass das Opfer darauf bestanden hatte, dass der Prozess öffentlich stattfindet und auch die Videos gezeigt werden. Das hatten die meisten Mitangeklagten und deren Verteidiger vergebens zu verhindern versucht. Gisèle Pelicot wollte keinen Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit, obwohl das ihre Intimsphäre geschützt hätte, sondern die Täter schonungslos mit ihren Vergehen konfrontieren. Nicht zuletzt wollte sie so all den Frauen, die ebenfalls Gewalt und Missbrauch ausgesetzt sind, Mut machen, sich zu wehren.
Änderung des Strafrechts denkbar
»Es geht hier nicht um Mut, sondern um Willen und Entschlossenheit, den Schleier über den Vergewaltigungen zu lüften«, sagte sie vor Gericht. »Die Scham soll die Seite wechseln«, ergänzte ihr Anwalt Stéphane Babonneau. Das wurde wie eine Losung von vielen Frauen und von Vereinigungen aufgegriffen, die Gisèle Pelicot an jedem Verhandlungstag mit stürmischem Beifall begrüßten.
Der Fall könnte zur Folge haben, dass im Strafrecht die Definition von Vergewaltigung geändert wird und fehlendes Einverständnis des Opfers als Kriterium aufgenommen wird. Damit würden dann auch Fälle als Vergewaltigung anerkannt, bei denen die Opfer mit Medikamenten betäubt wurden. Bereits 2011 hat Frankreich die Konvention von Istanbul unterzeichnet, die dies vorsieht, aber im Gegensatz zu Ländern wie Spanien erfolgte bisher keine Änderung des französischen Strafrechts.
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