Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Aktion Supermarkt: schenken, ohne dass man etwas zum Verschenken hat. Ein Erfahrungsbericht

  • Monika Reich*
  • Lesedauer: 5 Min.
Feinkostwaren mit Lebensgefühl, die die Katastrophen der Welt in den Hintergrund treten lassen
Feinkostwaren mit Lebensgefühl, die die Katastrophen der Welt in den Hintergrund treten lassen

Nehmen und Geben ist das Prinzip unserer Gesellschaft. Es wird erwartet, dass du etwas gibst, wenn du etwas nimmst, und vice versa, wobei mensch einschränkend sagen muss, dass ein wesentlich kleinerer Teil der Menschen wesentlich mehr nimmt, als er gibt. Da wir uns in der Weihnachtszeit befinden, soll es im Folgenden ums Schenken gehen. Schenken durchbricht den Kreislauf des Nehmens und Gebens, weil das Schenken die reine Freude am Geben ist, ohne etwas dafür zu erwarten. So ist es gedacht, und wer das anders denkt, ist doch wieder eher beim Nehmen und Geben.

Wir wollten also schenken. Und da uns durch die gestiegenen Preise das nötige Geld dafür fehlte, entschlossen wir uns, von denen zu nehmen, die sich damit schwertun zu geben: den Supermarktketten, die immer noch einen viel zu guten Ruf neben den großen Industrie- und Tech-Unternehmen genießen. Warum Menschen auf die Idee kommen, in Supermärkten klauen zu gehen, erklärt sich von selbst, denke ich. Für diejenigen, die jetzt überlegen müssen, seien hier ein paar Gedankenstützen geliefert: Inflation, Hartz IV, Kapitalismus. Also entschieden wir, es anzugehen.

In schönster Abenddämmerung an irgendeinem ruhigen Ort in der Nähe eines Supermarktes unserer Wahl, von dem mensch gut türmen kann, trafen wir uns. Wir besprachen unser Anliegen des Nehmens und Verschenkens. Und wer hineingehen und wer ein Diebespaar bilden wollte. Natürlich hatten wir unsere guten, na ja, anständigen Sachen an, denn nichts wirkt so verdächtig und anrüchig in unserer furchtbaren Gesellschaft wie sichtbare Armut. So ging es also in einen dieser schicken, von warmem Licht erhellten Supermärkte, die nicht nur Waren verkaufen, sondern mit ihnen gleich ein ganzes Lebensgefühl von Gesundheit, Hochkultur und Wohlstand. Dieses Lebensgefühl, mit dem dann die Kund*innen zu Hause sicher und wohlig speisen, während die Katastrophen der Welt hinter Bildschirmglas oder der Schutzfolie des Smartphones an ihnen vorbeiziehen.

Diese seltsame Identifizierung mit den Waren, obwohl einen mit denen nun rein gar nichts verbinden sollte.

Um der eigenen Aufregung vor dem »Nehmen« besser Herr oder Frau zu werden, hatten wir uns ein leckeres Drei-Gänge-Menü überlegt. Ziel war, so entspannt wie möglich durch die Regalreihen zu gehen, zu überlegen und Waren auszusuchen; wie beim normalen Einkaufen halt. Nach der Devise »Was wolltest du immer schon mal essen, kaufst es aber nie, weil es zu teuer ist« beziehungsweise »Was braucht mensch als Grundstock und ist trotzdem teuer« (zum Beispiel Olivenöl, Käse) wollten wir nehmen, um zu schenken. Na ja, und einigermaßen robust sollten die Lebensmittel sein, denn wenn du erst einmal mit dem vollen Beutel Richtung Tür gehst und sich dir jemand an die Fersen heftet, achtest du nicht mehr so darauf, ob die Eier heil bleiben oder die Tomaten zerquetscht werden. Zudem wollten wir die Waren, die wieder zu Gebrauchsgegenständen und Nahrungsmitteln werden würden, ja noch verteilen, und dafür hatten wir keine schön sortierten Regale, sondern lediglich einen Tapeziertisch auf einem x-beliebigen, gut frequentierten Platz in einer Stadt, bei Dunkelheit und eventuell Nässe.

Hinterhergerannt ist uns selten jemand. Vielleicht war es den Leuten vom Supermarkt egal. Warum sollte es auch anders sein? Viele haben ein aufgeklärtes Verhältnis zu ihrer Arbeit. Fürs Hinterherlaufen oder Stressschieben gibt es keine Lohnprämie, und die Ware gehört nicht ihnen. In den meisten Fällen hat es niemand mitgekriegt. Wir Menschen sind so auf unseren Einkauf oder aufs Abkassieren fokussiert, dass andere lediglich als wabernde Masse im Raum wahrgenommen werden. Und selbstverständlich geht mensch nicht an der Kassenschleuse vorbei, sondern wie selbstverständlich durch den Eingang wieder raus. Lediglich die in unserer Gesellschaft allgegenwärtigen Kameras beobachteten uns. Aber da sie nicht sprechen und nicht laufen können, blieb ihnen nur übrig, Bilder von unseren Käppis, Mützen und dicken Schals im Gesicht zu machen.

Allerdings gab es manchmal verbale Empörung über das »Nehmen«. Als ob mensch von den Leuten selbst nimmt. Diese seltsame Identifizierung mit den Waren, obwohl einen mit denen nun rein gar nichts verbinden sollte. Es scheint, solche Leute sind vor allem empört darüber, dass Menschen das Prinzip des Nehmens und Gebens unterlaufen.

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In alle Winde zerstreut, haben wir die Lebensmittel dann irgendwo in der Stadt abgestellt, wo alle aufgefordert waren, sich etwas zu nehmen, ohne dafür zu bezahlen. Das taten die Menschen auch mit Freude. Heute mal ein Abendessen mit Lachs, heute mal die 15 Euro für Pampers gespart, heute mal Nachtisch für die Kinder. Während es einige Menschen nicht interessierte, woher die Dinge kamen, freuten sich andere ausdrücklich darüber, wie die Dinge zu ihnen gefunden hatten. Eine ältere Dame bedankte sich überschwänglich.

Und so waren wir doch am Ende wieder ein wenig im Kreislauf des Nehmens und Gebens, als wir als Gegenleistung diese liebevolle Geste der Dame empfingen. Nehmt von denen, die sich schwertun zu geben, und schenkt denen, die nichts geben können, dann ist für immer Weihnachten. In diesem Sinne euch allen frohe Feiertage!

*Die Autorin lebt in einer großen deutschen Stadt und stahl seit den Teuerungen 2022 zusammen mit anderen Menschen Produkte aus Supermärkten. Ihr Name wurde von der Redaktion geändert, weil sie ihren echten nicht öffentlich bekannt machen möchte.

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