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Nachspielzeit: Minuten der Anarchie

Die Nachspielzeit im Fußball verspricht grandioses Chaos – aber wie lange darf sie dauern?

  • Lennart Garbes
  • Lesedauer: 9 Min.
Früher die absolute Ausnahme, heute eher die Regel: lange Nachspielzeiten im Fußball.
Früher die absolute Ausnahme, heute eher die Regel: lange Nachspielzeiten im Fußball.

Ohne Nachspielzeit wäre die »Mutter aller Niederlagen« kaum mehr als ein kleiner Eintrag im Archiv der Fußballhistorie geworden. Am 26. Mai 1999 sah der FC Bayern im Champions-League-Finale in Barcelona 90 Minuten lang wie der sichere Sieger aus. Ein direkt verwandelter Freistoß von Mario Basler in der 6. Minute hatte die Münchner im Duell mit Manchester United früh in Führung gebracht. Vor 90 000 Zuschauer*innen im Camp Nou dominierten die Bayern danach das Geschehen, trafen noch Pfosten und Latte. Doch in der 91. Minute bekamen die Red Devils von Schiedsrichter Pierluigi Collina noch einmal eine Ecke zugesprochen. David Beckham legte sich den Ball zurecht, United-Torhüter Peter Schmeichel eilte mit in den gegnerischen Strafraum. Was danach geschah, lässt allen Ü30-Bayern-Fans bis heute Schauer über den Rücken laufen.

Zuerst stand Teddy Sheringham nach einer zu kurzen Klärungsaktion und einem missglückten Schuss von der Strafraumgrenze goldrichtig für den 1:1-Ausgleich. Nur damit der kurz zuvor eingewechselte Ole Gunnar Solskjær in der 93. Minute nach einer erneuten Beckham-Ecke das Spiel komplett auf links drehen konnte. Innerhalb von drei Minuten hatte United den Münchnern den sicher geglaubten Henkelpott geklaut. Nach Abpfiff weinte der 38-jährige Lothar Matthäus auf der Bayern-Bank, Peter Schmeichel schlug vor Freude Flickflacks durch seinen Strafraum und United-Trainer Alex Ferguson wurde von der Queen zum Ritter geschlagen – gefühlt noch auf dem Rasen des Camp Nou.

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Das grandiose Chaos der letzten Minuten

Die schönsten und schlimmsten Dinge im Fußball passieren in der Nachspielzeit. Wenn der oder die vierte Offizielle an der Seitenlinie die Anzeigetafel mit den zusätzlich zu spielenden Minuten aufblinken lässt, ist plötzlich alles möglich. Sichere Siege verwandeln sich in herzzerreißende Niederlagen – und umgekehrt. Tagelang ausgetüftelte Matchpläne werden über den Haufen geworfen. Abwehrhühnen dürfen Mittelstürmer spielen, Torhüterinnen besuchen sich gegenseitig im Strafraum und selbst die größten Tiki-Taka-Fans fordern, den Ball möglichst hoch und weit nach vorne zu hauen. Sobald die Stadionuhr auf 90:00 springt, versinkt der Fußball im grandiosen Chaos.

In der Nachspielzeit verlor Schalke-Manager Rudi Assauer den Glauben an den Fußballgott, als seine Gelsenkirchener Kicker am letzten Spieltag der Saison 2000/2001 von der 90. bis zur 94. Minute »Meister der Herzen« waren, ehe ein indirekter Freistoß in Hamburg alles zunichtemachte. Der FC Barcelona brauchte im März 2017 zwei Tore nach Ablauf der regulären Spieldauer, um die nicht für möglich gehaltene »Remontada« zu schaffen und trotz einer 0:4-Hinspielniederlage gegen Paris Saint-Germain mit einem 6:1 im Rückspiel doch noch ins Viertelfinale der Champions League einzuziehen. Und Ann-Katrin Berger bewies in diesem Sommer, dass nicht nur späte Tore den Stoff für Legenden liefern: In der neunten Extraminute parierte die Nationaltorhüterin gegen Spanien einen Elfmeter und sicherte den Frauen des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) damit den 1:0-Sieg und die Bronzemedaille bei Olympia in Paris.

Dabei fällt schon anhand dieser vier glorreichen Nachspielzeiten ein deutlicher Trend auf: Die verrückteste Zeit im Fußball dauert immer länger. 1999 fühlten sich die drei zusätzlichen Minuten im Champions League Finale für die Bayern wie eine Ewigkeit an. 2001 reichten vier Minuten, um Gelsenkirchen durch die gesamte Gefühlsachterbahn des Fußballs zu schicken. Barça hatte für die »Remontada« schon fünf Minuten Zeit. Und das deutsche Nationalteam musste in Paris ganze neun Minuten um die Bronzemedaille bangen.

Die Geburtsstunde der Nachspielzeit

Dass Fußballspiele heute eher 100 als 90 Minuten dauern (Sorry Sepp Herberger, immerhin ist der Ball noch rund!) liegt an einer Regel, die den Sport von einer seiner unschönsten Seiten befreien soll: der absichtlichen Verzögerung des Spiels. Wenn erwachsene Profis sich ohne Grund auf dem Boden herumwälzen, Bälle in die völlig falsche Richtung schießen, oder im Moment ihrer Auswechslung ganz plötzlich das Laufen verlernt haben, gilt das nicht nur als unfair, sondern auch als unansehnlich. Weil die Spielzeit im Fußball – anders als im Basketball, Eishockey oder Handball – niemals stillsteht, egal wie absurd eine Unterbrechung auch sein mag, wurde die Nachspielzeit eingeführt – und das schon 1891.

Damals, in der vierten Saison der gerade ins Leben gerufenen englischen Football League, dauerten Fußballspiele tatsächlich noch genau 90 Minuten. Diesen Fakt machte sich der Torhüter von Aston Villa im Spiel gegen Stoke City zunutze, als er den Ball kurz vor Spielende beim Stand von 1:0 für Villa vom Feld drosch. Stoke hatte gerade einen Elfmeter zugesprochen bekommen, doch als die Spieler den Ball endlich wiedergefunden hatten, waren die 90 Minuten vorbei und das Spiel wurde abgepfiffen. Danach beschloss der englische Verband, dass Spielverzögerungen nachgespielt werden und ein Spiel nicht enden kann, ohne dass ein zuvor gegebener Elfmeter ausgeführt wurde.

Eine neue Zeitrechnung für die WM in Katar

Seitdem hat sich viel verändert im Fußball und vieles ist gleich geblieben. Mehr als 130 Jahre nach der Einführung der Nachspielzeit ist Zeitspiel weiterhin ein Problem. Zur Weltmeisterschaft 2022 entschied sich der Weltfußballverband Fifa deswegen für eine radikale Neuauslegung der Regel: Jede Verzögerung sollte konsequent auf die Spieldauer addiert werden. Nicht nur für Verletzungen, Auswechslungen und Zeitschinden sollte es Extraminuten geben, sondern auch für den Torjubel, das Zeigen von Gelben und Roten Karten, Strafstöße und natürlich für den Einsatz des Videoschiedsrichters (VAR). »Wir werden die Nachspielzeit sehr genau berechnen und versuchen, die Zeit auszugleichen, die verloren geht«, erklärte Schiedsrichter-Chef Pierluigi Collina, der einst die verhängnisvollen drei Minuten von Barcelona angeordnet hatte, vor dem Turnier in Katar.

Was folgte, war die längste WM aller Zeiten – was die Dauer der einzelnen Spiele angeht. Zehn Minuten ließen die Schiedsrichter im Schnitt nachspielen. Schon am zweiten Tag der Weltmeisterschaft führte das zu einer ganzen Reihe von Rekorden. Beim Gruppenspiel England gegen Iran gab es bereits in der ersten Halbzeit wegen einer Verletzung des iranischen Keepers und einer VAR-Entscheidung 14 zusätzliche Minuten – eine längere Nachspielzeit gab es bei der WM nie. In der zweiten Hälfte kamen dann noch einmal 13 Minuten dazu. Mit insgesamt 117 Minuten Spieldauer wurde es das längste WM-Spiel, das nicht in die Verlängerung ging. Außerdem erzielte der iranische Stürmer Mehdi Taremi mit seinem Treffer zum 2:6 in der 103. Minute das späteste WM-Tor in einem Spiel ohne Verlängerung. Und direkt im darauffolgenden Spiel sicherte sich der Niederländer Davy Klassen mit seinem Treffer in der 99. Minute gegen den Senegal den zweiten Platz im Ranking der spätesten WM-Tore.

Doch nicht allen gefiel die Vorstellung, dass Fußballspiele zukünftig immer über 100 Minuten dauern sollen. Seit der WM vor zwei Jahren ist ein Streit darum entbrannt, wie lange eigentlich nachgespielt werden darf. Auf der einen Seite steht die Fifa, die nach dem Turnier in Katar allen Fußballwettbewerben weltweit empfahl, die Nachspielzeit deutlich anzuheben. Die Fifa zug die Richtlinie auch bei der WM der Frauen 2023 in Australien und Neuseeland durch. Dagegen sehen die Uefa, Europas Fußballdachverband, und viele nationale Verbände die zeitliche Expansion des Fußballs deutlich skeptischer.

Streit zwischen Fifa und Uefa

Nach der WM der Frauen erklärte Roberto Rosetti, der Schiedsrichterchef der Uefa, dass es Wichtigeres gäbe als die genaue Abrechnung jeder einzelnen Spielverzögerung: »Wir fordern unsere Schiedsrichter auf, die Wiederaufnahme des Spiels zu beschleunigen, anstatt sich auf die Nachspielzeit zu konzentrieren.« Ähnlich klang auch DFB-Schiedsrichterlehrwart Lutz Wagner, der zum Start der Saison 2023/2024 in der Sportschau verkündete, dass es zukünftig im Einzelfall auch in der Bundesliga zehn Minuten extra geben könnte, »aber es ist nicht generell so, dass wir die Spiele extrem ausdehnen wollen.« Allein die Androhung, jedes Zeitschinden nachspielen zu lassen, könne sich bereits positiv auswirken, meinte Wagner: »Wir setzen auch ein bisschen auf den Lerneffekt der Spielerinnen und Spieler, dass sie das Spiel nicht mehr so verzögern, damit wir die exorbitant hohen Nachspielzeiten gar nicht brauchen.«

Was seitdem auf dem Platz passiert ist, fühlt sich trotz der Bekundungen von Wagner und Rosetti eher nach einem heimlichen Sieg für die Fifa an. In der Bundesliga, genauso wie in den anderen Topligen Europas und auch bei den europäischen Fußballwettbewerben wird seit den Weltmeisterschaften 2022 und 2023 deutlich länger gespielt. Zweistellige Nachspielzeiten bleiben zwar die Ausnahme, doch über sechs, sieben oder acht Minuten extra regt sich inzwischen kaum noch jemand auf.

»Laterkusen« und ein neuer EM-Rekord

Stattdessen sind in den zusätzlichen Minuten schon einige unvergessliche Momente dazugekommen. Auch Bayer Leverkusens »Invincibles«-Meistersaison wäre ohne die neue Zeitrechnung unmöglich gewesen. Sechsmal erzielte die Werkself in der Bundesliga entscheidende Tore nach der 90. Minute. Besonders am 30. und 31. Spieltag sah alles danach aus, als ob die erste ungeschlagene Saison der Bundesligageschichte ein Leverkusener Traum bleiben würde. Dortmund und Stuttgart hatten den deutschen Meister am äußersten Rand einer Niederlage. Doch gegen den BVB köpfte Josip Stanišić in der 97. Minute eine Ecke zum 1:1 ein. Und eine Woche später wuchtete Nationalspieler Robert Andrich den Ball in der 96. Minute irgendwie zum 2:2 über die Torlinie der Stuttgarter.

Die Europameisterschaft der Männer im Sommer machte dann eigentlich genau da weiter, wo die WM in Katar aufgehört hatte. Mit zehn Toren in der Nachspielzeit wurde schon nach der Gruppenphase ein neuer EM-Rekord aufgestellt. Darunter waren erneut extrem späte Treffer wie Ungarns Ausgleich gegen Schottland in der 100. Minute oder der Schlenzer von Mattia Zaccagni, der Italien in der 98. Minute gegen Kroatien doch noch den Einzug ins Achtelfinale sicherte. Jude Bellinghams ikonischer Fallrückzieher, mit dem der Engländer sein Team in der ersten K.o.-Runde gegen die Slowakei in der 95. Minute in die Verlängerung rettete, fiel da schon fast etwas früh.

Seit ihrer Erfindung liefert die Nachspielzeit verlässlich legendäre Sportmomente. Allein schon aus Vermarktungsgründen dürften Fifa, Uefa und auch der DFB deswegen wenig Interesse daran haben, die letzten Spielminuten wieder zu verkürzen – auch wenn die »Mutter aller Niederlagen« dadurch irgendwann unzählige Töchter haben wird. Ob die Extraminuten auch ihren eigentlichen Zweck erfüllen und helfen das Zeitspiel zu verringern, bleibt abzuwarten. Positive Tendenzen sind zwar erkennbar, viel länger kann die Nachspielzeit aber auch nicht mehr werden. Denn dann greift die nächste Marktlogik: Nach dem Abpfiff oder vor dem nächsten Spiel muss immer genug Zeit für Fernsehwerbung bleiben, sonst geht es dem Fußballbusiness ans Geld. Und das ist bekanntlich der einzige Moment in diesem Sport, in dem »noch mehr« nicht besser ist.

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