Mama stirbt nie

Der Rapper Rabeat scheint gefangen zu sein in einem Strudel aus Musik und Kriminalität

  • Benjamin Beutler
  • Lesedauer: 8 Min.
Brian Molina nach seiner Entlassung vor dem Gefängnis in Moabit
Brian Molina nach seiner Entlassung vor dem Gefängnis in Moabit

Berlin-Moabit, rote Backsteinmauern, im Gefängnis ist montags Besuchszeit. Die Spätherbsthitze knallt auf die Zellenfenster. Im kleinen Park gegenüber, auf der anderen Seite der Durchgangsstraße, stehen grüne, alte Eichen. Von hier aus winken an manchen Tagen Mütter mit Kindern ihren weggesperrten Vätern zu, lassen Luftballons steigen, die Mädchen herausgeputzt in schicken Discounterkleidchen. Die Jungs spielen auf dem Rasen Fußball und warten, dass die peinliche Aufwartung schnell vorbeigeht.

Die Eingangstür aus Aluminium und Glas lässt sich noch selbst aufdrücken, es ist ab hier die letzte ihrer Art. Aus seiner Kabine fordert ein Justizbeamter die Ausweise. »Zu Herrn Molina, bitte!«, überspielt Pamela, die ihren Lebensgefährten besucht, ihre Anspannung. Mit ihr ist er nach Berlin gekommen, um einen Neuanfang zu starten. Doch wieder ist er im Knast gelandet.

Der Wächter am Einlass findet den Namen des Argentiniers schnell im Computer. Wortlos zeigt er auf Verbotsschilder: Kein Geld! Kein Telefon! Kein Tabak! Keine Smartwatch! Keine Schlüssel! 16 Euro pro Häftling und Besuch sind erlaubt, aber nur als Klimpergeld. Das wird später im Besucherraum in einen der drei Automaten eingeworfen. Kartoffelchips, Capri-Sonne und Zigaretten aus den Automaten rauschen runter und landen in einer durchsichtigen Plastiktüte, die ein Wärter dem Gefangenen nach Besuchsende auf die Zelle bringt.

Doch erst einmal muss der Besuch durch die miefigen Gänge des Knastes, dessen fünf Trakte in Sternform aufs Hauptgebäude zulaufen. Ein Laufzettel, es ist die Nummer 3, wird durch den Schlitz geschoben: »Biddeschön!« Der erste Wärter lässt die zweite Tür summen. Im Durchgangssaal ein paar Metallstühle, eine Zimmerpflanze. Warten! »Nummer 3, der Herr bidde zuerst!«, kommt es gelangweilt aus dem Lautsprecher. Durch die dritte Tür, diesmal ein schweres Eisendrehkreuz. »Bidde dahin! Hinstelln!« Der Wärter in dunkelblauer Uniform zeigt auf den Boden. Da sind zwei Fußabdrücke aufgeklebt: »Arme aussnanda!« Metalldetektor, abtasten: »Danke!« Weiter zur vierten Tür, vorbei an noch einem Wärterhäuschen. Kurzer Kontrollblick ins Gesicht. Der Türsummer schnarrt den Weg frei.

Ein großes Schild mit Pfeil weist auf Russisch, Türkisch, Hebräisch, Arabisch, Spanisch und in einer Handvoll anderer Sprachen die Richtung: »Zum Wartesaal«. Eine fünfte Tür. Der Raum hat keine Fenster. Nur Neonlicht. Eine sorgfältig geschminkte Mutter wartet geübt gelangweilt mit zwei Kindern. Auf einer digitalen Anzeigetafel wird die Laufzettelnummer 3 angezeigt!

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Durch kleine Flure noch mal und noch mal um die Ecke. Die sechste Tür summt. Im Besucherraum lässt ein vergittertes Milchglasfenster das Tageslicht durch. Drei Wachmänner passen auf, zwei von ihnen hinter einer Art erhöhter Theke. Sie sehen und hören alles. Jeder hier schwitzt. Es gibt vier, fünf Tische. »Herr Molina« wartet schon.

Seit drei Monaten sitzt Brian Molina ein. »Mir geht es gut, aber die Langeweile ist tödlich, ich bin alleine in der Zelle, Einzelhaft, die ist heiß wie eine Sauna«, erzählt er auf Spanisch im nuschelig-nöligen Buenos-Aires-Slang. Aus einem Plastikkasten habe er sich eine Fußwanne zur Abkühlung gebastelt, lacht er leicht abgekämpft. Heiß her geht es auch draußen. Seit Jahren brennen vor den Gefängnismauern geparkte Autos ab, Brandstiftung, immer nachts, Täter unbekannt. Die Flammen, die verkohlten Metallgerippe seien wohl ein Zeichen für irgendjemanden drinnen, plaudert der 31-Jährige aus der Gerüchteküche. »Gibt echt krasse Leute hier.« An einem anderen Tag erschreckt ein Feuerwerk die Nachbarn rund um das Gefängnis. Jemand hinter Gittern feiert Geburtstag. Drei Freunde, Nummernschild aus Polen, warten, bis es dunkel ist, schreien den Namen des Geburtstagsknastis. Lila, blaue, weiße Funkentulpen erleuchten den Moabiter Nachthimmel.

2023, einen Sommer vorher, sitzt Brian noch an einem See in Berlin und filmt sich selbst. Maximalromantischer Sonnenuntergang, weiße Schwäne turteln. Im Instagram-Clip singt Mercedes Sosa, die Grande Dame des argentinischen Chansons, »Gracias a la vida«, ihre traurige Dankeshymne an das Leben. Unter seinen ersten Social-Media-Post aus Deutschland für seine Fans in der Heimat schreibt Brian: »Egal, wo ich bin, ich werde immer das Kind sein, das davon träumt, das das, was es in seinem Herzen trägt, auf der ganzen Welt gehört wird.«

Auch hier, in Europa, auf dem anderen Kontinent, wohin er, frisch verliebt, mit Pamela gereist ist, will der Rapper nach den »gleichen Werten und mit dem gleichen Lebenswillen« leben wie bisher. #majamásmuere ist der Hashtag, mit dem er jeden Beitrag im Netz markiert. #MomStirbtNie, das ist der Song, mit dem er als Rabeat in seiner Heimat eine kleine Rap-Berühmtheit geworden ist.

Brians Mutter ist schwanger, als sie an einem bewaffneten Raubüberfall beteiligt ist. Der Coup geht schief, die Gewalt gerät außer Kontrolle, ein Polizist stirbt: Sie bekommt 25 Jahre Freiheitsstrafe wegen Raubes und Mordes. Brian kommt im Gefängnis zu Welt, die Ereignisses vor seiner Geburt werden sein Leben prägen. Auch sein Vater fährt ein. Bis er vier Jahre alt ist, wächst er mit seiner Mutter im Frauengefängnis »Los Hornos« auf. Hier lernt er als Sohn einer Polizistenmörderin laufen, sprechen, lieben. Sie darf ihren Mann sehen, der seine Strafe im Caseros-Gefängnis absitzt.

»Ja, ich verliere zu schnell die Kontrolle, ich weiß das, ich arbeite daran, es ist nicht leicht.«

Brian Molina

Zwei weitere Kinder erblicken in Unfreiheit das Licht der Welt. Mit vier wird Brian aus dem Gefängnis zu seiner Großmutter geschickt. Die Mutter seiner Mutter hat kaum Geld für sich, zieht von Wohnung zu Wohnung, kommt in billigen Absteigen unter. Bei Brians Grundschulanmeldung fehlen ihr Sorgerechtspapiere. Der eifrige Direktor schlägt beim Jugendamt Alarm. Brian landet im Kinderheim – »von einem Gefängnis ins nächste Gefängnis«, sagt er. Seine Geschwister kommen später in dieselbe Anstalt. Hier lernt Brian schnell, dass er mit Gewalt überlebt. »So hat sich mein Charakter gebildet.«

Mehrmals bricht er aus dem Jugendheim aus, mal alleine, mal mit seinem kleinen Bruder. Mit zehn schlägt er sich auf den Straßen der Hauptstadt durch, rund um den Kongressplatz. Er klaut, bettelt, bricht ein. Waffen, Drogen. Immer wieder wird er eingefangen, immer wieder bricht er aus. Im Heim lernt er Klavier spielen. Bei einer seiner Fluchten trifft er seine Großmutter und Tante wieder, die ihn gesucht, aber völlig aus den Augen verloren hatten. Brian und seine Geschwister können zur Familie zurück, da ist er aber längst ein wilder Teenager. In Freiheit beginnt er zu beatboxen, macht also mit dem Mund Instrumente nach, und wird Beatbox-Champion von Argentinien. Er beginnt zu rappen, Freestyle, und wird Freestyle-Champion von Buenos Aires. Nach zwei CD-Aufnahmen scheint es gut zu laufen.

Doch dann kommt es zu einem Streit mit dem Bruder seiner Freundin. Brian verletzt ihn mit dem Messer schwer – und wandert wieder in eine Zelle. Auch seine Freundin muss ins Gefängnis. Sie habe ihn zu seiner Tat angestachelt, urteilen die Richter. Sie ist schwanger von ihm. Der im Gefängnis Geborene wird also mit Anfang 20 Vater eines Sohnes, der im Gefängnis geboren wird.

In der Justizvollzugsanstalt »Marcos Paz« erfährt er vom Tod seiner Mutter. Und schreibt den Song »Mama stirbt nie«, der zum Hit wird. Mit seiner frisch gegründeten Band gewinnt er den Musikwettbewerb, der für die Insassen des brutalsten Zuchthauses in dem südamerikanischen Land ausgerichtet wird.

Auf seinem Arm ist eine Uhr eintätowiert mit der Uhrzeit, zu der er vom Tod seiner Mutter erfahren hat. »Sie starb in Freiheit«, erzählt Brian. Wenn er singe, lebe sie weiter. »Ma jamás muere!« Und was bedeutet das breite Tattoo an seinem Hals? »Darüber rede ich nicht gern. Da ist eine Narbe, mir wollte jemand die Kehle durchschneiden.«

Und warum sitzt er jetzt wieder im Gefängnis, hier in Deutschland? »Meine Schwester hat mich angezeigt, sie will die Anzeige nicht zurückziehen.« Er soll sie an den Haaren gezogen, geschlagen, bedroht haben, mit einem Messer in der Hand. Ein paar Monate nach seiner Ankunft in Berlin ist er nur kurz raus, in Prenzlauer Berg, um frischen Joghurt einzukaufen, da kommen zwei Polizisten in Zivil auf ihn zu. Zu spät, die Handschellen klicken. Argentiniens Justiz hat einen internationalen Haftbefehl ausgestellt, fordert seine Auslieferung. »Ja, ich verliere zu schnell die Kontrolle, ich weiß das, ich arbeite daran, es ist nicht leicht. Sie ist meine Schwester, sie ist bestimmt wütend auf mich, weil ich sie immer im Heim gelassen habe, wenn ich abgehauen bin«, so seine Rechtfertigung, seine Erklärung, seine Entschuldigung.

Die Mühlen der Justiz mahlen dieses Mal für Brian. Sein deutscher Pflichtverteidiger macht gute Arbeit, Argentiniens Justiz arbeitet langsam und schludrig. Erst fehlen Papiere von der argentinischen Staatsanwaltschaft, dann laufen Fristen aus, und Brian wird mit der Auflage, sich täglich auf der Polizeiwache zu melden, nach über drei Monaten Haft entlassen.

Es ist Winter in Berlin, als sich das zuständige Strafgericht aus Buenos Aires meldet: Die Anklage ist verjährt, der internationale Haftbefehl mit sofortiger Wirkung aufgehoben. In einer letzten Whatsapp-Nachricht schickt er ein Foto aus der Charité: »Kannst du mit Geld helfen? Ich laufe auf Krücken, habe mir das Bein gebrochen und keine Krankenversicherung!« Brian ist wieder auf freiem Fuß.

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