Jemen: »Die Kinder leiden am meisten«

Regulärer Schulunterricht ist im bürgerkriegszerstörten Jemen kaum möglich

  • Interview: Frédéric Valin
  • Lesedauer: 6 Min.
Bürgerkrieg – Jemen: »Die Kinder leiden am meisten«

Herr Alsrori, wie geht es Ihnen?

Jeden Tag erwache ich mit einer neuen Tragödie, die mich noch verzweifelter und frustrierter macht. Ich leide unter der Bitterkeit der Verwirrung und eines Lebens voller Angst, Unterdrückung, Hunger und Einsamkeit.

Wie ist die Situation insgesamt für Lehrer*innen im Jemen?

Es gibt viele Lehrer, die von einer Stadt in eine andere und von einer Region in eine andere ziehen, um ihre Arbeit auszuüben. Der Lehrerberuf ist ein erhabener und heiliger Beruf, da Lehrer die Erben der Propheten sind. Doch trotz all der Anstrengungen, die der Lehrer bei der Ausübung seiner Arbeit auf sich nimmt, ist er obdachlos, ohne Unterkunft und ohne ein Bett zum Schlafen. Lehrer im Jemen schlafen auf den Dächern von Schulen oder von Geschäften. Es ist ein hartes und ermüdendes Leben. Ihre Familien und Kinder brauchen sie dringend. Die Familien müssen versorgt werden, sie müssen essen und trinken, und die Kinder müssen zur Schule gehen. Ich aber kann meiner Familie kein Geld schicken.

Interview

Eyad Alsrori ist Lehrer in der Stadt Aden im Jemen und unterrichtet unter anderem Deutsch. Er demonstrierte in den letzten Jahren immer wieder für eine Bezahlung der Lehrkräfte im Land.

Warum nicht?

Viele Lehrer in jemenitischen Gouvernements haben über Jahre ihr Gehalt nicht erhalten. Das Geld, das ein Lehrer erhält, reicht nicht, um eine Person zu ernähren. In der Schule, in der ich arbeite, habe ich noch keinen Raum gefunden, in dem ich nach Beendigung meiner Arbeit wohnen und entspannen könnte. Es ein sehr seltsames Leben. Den Bildungsministern ist es egal, ob der Lehrer satt oder hungrig ist, ob er lebendig oder tot ist, ob er isst und trinkt, ob er in einem Haus oder am Straßenrand schläft, ob er krank ist oder bei Gesundheit.

Interessiert die Regierung das Schicksal der Kinder?

Viele Kinder von Lehrern haben die Schule und die Universität abgebrochen, weil sie aufgrund der schwierigen finanziellen Lage der Lehrer ihre Ausbildung an Schulen und Universitäten nicht abschließen konnten. Zwar führten wir Lehrer im Jemen viele Demonstrationen und Proteste vor Regierungsgebäuden durch, um unsere Rechte einzufordern, jedoch ohne Erfolg. Die Regierungen reagierten überhaupt nicht auf unsere Forderungen.

Wie sind Sie Lehrer geworden?

Ich bin in einem Dorf im Gouvernement Taiz geboren und aufgewachsen. Ich stamme aus einer armen Familie und hatte Schwierigkeiten, in der Schule zu lernen, weil mein Vater im Baugewerbe arbeitete und wenig Geld verdiente. Nach dem Abitur wollte ich studieren und beschloss, in die jemenitische Hauptstadt Sanaa zu ziehen. Also borgte ich mir die Reisekosten von einem Verwandten im Dorf. Damals träumte ich davon, die deutsche Sprache zu lernen, weil ich über das Fernsehen, Nachrichtensender und einige Freunde viel über Deutschland gehört hatte. Ich wollte auch nach Deutschland reisen und dort leben, weil ich erfahren hatte, dass Deutschland ein sehr schönes Land ist, mit schöner Natur, und dass es ein fortschrittliches Land in Bildung und Technologie ist. Die Deutschen sind sehr freundliche und großzügige Menschen. Die deutsche Regierung leistet viel Hilfe für viele Völker der Welt.

Wie war dann Ihre Studienzeit?

Einen Monat nach der Anmeldung begann ich in der deutschen Sprachabteilung zu studieren. Ich habe es sehr geliebt. Aber meine Studiengebühren machten mir großen Kummer, ich musste arbeiten. Ich habe von morgens bis mittags an der Universität studiert und bin danach von mittags bis abends zur Arbeit gegangen, um mein Studium zu finanzieren und meinen Traum zu verwirklichen. Abends kam ich erschöpft zurück und musste außerdem meine Hausaufgaben machen. Dadurch blieb ich jeden Tag lange wach. Diese Situation hielt vier Jahre an, bis ich mein Studium abschloss. Darüber habe ich mich sehr gefreut.

Was hat Ihnen das Studium gebracht?

Danach machte ich mich auf die Suche nach einer Stelle in meinem Fachgebiet. Es verging eine lange Zeit, und ich bekam nichts. Das führte dazu, dass ich wieder als Bauarbeiter arbeiten musste, um den Lebensunterhalt für mich und meine Familie zu sichern. Dann bekam ich endlich eine Stelle beim Bildungsministerium als Deutschlehrer an einer weiterführenden Schule im Gouvernement Aden. Vier Monate Unterricht vergingen, aber wir erhielten unser Gehalt nicht.

Heißt »wir« alle Lehrer? Wie viel verdient ein Lehrer in Aden?

Ja, alle Lehrer. Das Gehalt, das wir normalerweise bekommen, beträgt ungefähr 20 Dollar im Monat. Es reicht nicht aus, um eine Person fünf Tage lang zu ernähren. Ich unterrichte weiterhin, aber mein Leben hier in der Stadt Aden ist sehr schwierig. Es gibt keinen Platz zum Schlafen, und wir Lehrer haben hier Hunger.

Möchten Sie von den Kindern im Jemen erzählen?

Jemenitische Kinder leiden am meisten. Viele Kinder wurden getötet. Bei saudischen und emiratischen Angriffen durch Kampfflugzeuge in mehreren jemenitischen Gouvernements wurden Zivilisten bombardiert, wobei viele Kinder Gliedmaßen verloren. Kinder leiden auch unter dem mangelnden Zugang zu medizinischer Behandlung. Einige von ihnen bleiben lange Zeit ohne Behandlung in Krankenhäusern. Viele Kinder erleiden durch die Explosionsgeräusche psychische Krisen, durch den Tod ihrer Eltern, Verwandten und Geschwister, die Zerstörung ihrer Häuser sowie wegen der Inhaftierung einiger ihrer Verwandten durch Milizen und Sicherheitskräfte.

Haben die Kinder überhaupt genug zu essen?

Kinder im Jemen sind Unterernährung und echter Hungersnot ausgesetzt, insbesondere im Gouvernement Hodeida. Dieser verfluchte Krieg beraubt viele Familien des Zugangs zu Nahrungsmitteln und Trinkwasser und auch zu Medikamenten. In mehreren Gegenden sind Kinder obdachlos und vertrieben worden. Sie ziehen von einer Gegend in eine andere, um der Hölle des Krieges zu entkommen. Die Kinder wurden teilweise in Gebiete fernab der Städte gebracht; sie leben in Lagern und Höhlen, wo sie nicht vor der harten Winterkälte geschützt sind. Sie haben auch keine warme Kleidung oder Decken. In den Gebieten, in die sie vertrieben wurden, gibt es nicht einmal Wasser. Daher legen die Kinder weite Strecken auf gefährlichen Straßen zurück, um an Wasser für sich und ihre Familien zu kommen. Der Bürgerkrieg im Jemen zerstört die Zukunft und Träume von Kindern.

Wie können Kinder unter diesen Bedingungen lernen?

Da Schulen in vielen jemenitischen Gebieten zerstört sind, lernen Kinder unter Bäumen und im Freien unter der starken Sonneneinstrahlung. Sie werden auch in zerstörten Gebäuden und Räumen unterrichtet. Und es gibt einen großen Anteil von Kindern, die die Schule abgebrochen haben. Viele Kinder sind nach dem Tod ihrer Eltern ohne Ernährer und müssen bereits in jungen Jahren Verantwortung übernehmen und den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien sichern. Manche Kinder, die nicht arbeiten können oder keine Arbeit finden, betteln auf der Straße oder auf Märkten. Eine weitere Tragödie besteht darin, dass Milizen Kinder an die Front bringen, damit sie in ihren Reihen zu kämpfen. Dort werden Kinder gefangen genommen, getötet oder verletzt. Kinder werden Opfer von Vergewaltigung oder Organhandel. Kindern wird kein Schutz und keine Sicherheit geboten. Kinderrechte gibt es so gut wie keine.

Wie alt sind Ihre Kinder?

Sie sind jetzt 14, 6 und 4 Jahre alt. Meine Hoffnung ist, dass der Krieg endet und ich friedlich mit meinen Kindern zusammenleben kann. Ich habe sie das letzte Mal vor drei Monaten gesehen.

Wenn Sie über Monate nicht bezahlt werden, wovon leben Sie dann? Werden Sie von Hilfsorganisationen unterstützt?

Hilfsorganisationen gibt es hier nicht. Freundliche deutsche Facebook-Freunde schicken uns manchmal Geld. Das ist alles.

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