Scheinbar verlorene Juden überlebten

Brandenburgs Landtag zeigt Ausstellung über 1945 in Tröbitz befreiten Transport von KZ-Häftlingen

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 6 Min.
2015 auf dem jüdischen Friedhof in Tröbitz berührt Abraham Bivas den Grabstein seines Bruders Asher.
2015 auf dem jüdischen Friedhof in Tröbitz berührt Abraham Bivas den Grabstein seines Bruders Asher.

»Der ›Verlorene Transport‹ gehört zu den unvorstellbar grausamen, selten erzählten und deshalb wenig bekannten Ereignissen zur Zeit von Nationalsozialismus, Weltkrieg und Holocaust«, sagt Landtagspräsidentin Ulrike Liedtke (SPD) am Dienstagabend bei der Eröffnung der Ausstellung. Im Foyer des Parlamentsgebäudes am Alten Markt von Potsdam wird jetzt bis zum 27. Februar das Schicksal von acht Überlebenden erzählt – oder besser gesagt: die Kinder und Jugendlichen von damals erzählen selbst, was ihnen widerfuhr. Ihre Erinnerungen sind nachzulesen. Sie überlebten, obwohl sie keine Chance zu haben schienen, wie Ulrike Liedtke sagt.

Im KZ Bergen-Belsen hält die SS einst jüdische Geiseln fest, um sie gegen Deutsche im Ausland auszutauschen oder mit ihnen Geld zu erpressen. Als das Lager ab 1944 heillos überfüllt ist, sterben die Insassen massenweise an Hunger und Krankheiten. Auch die durch ihr überliefertes Tagebuch berühmte Anne Frank kommt dort um.

Als sich im April 1945 US-amerikanische Truppen Bergen-Belsen nähern, will die SS rund 6700 Geiseln ins böhmische KZ Theresienstadt verlegen. Drei Züge gehen ab. Nur einer erreicht sein Ziel, der zweite wird von US-Soldaten befreit und der dritte irrt 14 Tage durch Nord- und Mitteldeutschland, bevor er am 20. April mit über 2100 Menschen bei Tröbitz, in der Lausitz, liegen bleibt. Da zunächst unklar ist, wo dieser Zug steckt, spricht man vom »verlorenen Transport«.

Am 23. April 1945 erreichen sowjetische Soldaten Tröbitz und öffnen die Waggons. Sie bringen Kranke in Lazarette, die jedoch überfüllt sind. So werden Einwohner von Tröbitz von der Roten Armee verpflichtet, Juden in ihren Häusern aufzunehmen, sie zu ernähren und gesund zu pflegen. 130 der KZ-Häftlinge dieses Transports sind bereits unterwegs gestorben, weitere 320 erliegen in den nächsten drei bis vier Monaten ihren Strapazen oder sterben an Typhus. 26 Einwohner von Tröbitz stecken sich an und sterben ebenfalls.

Die jüdischen Opfer werden auf einem Friedhof bestattet, auf dem 1966 ein Gedenkstein eingeweiht wird. Die Inschrift lautet: »Im Gedächtnis an die jüdischen Männer und Frauen ...« Für die Einhaltung der religiösen Riten sorgt ein ungarischer Oberrabbiner. Für Günter Morsch ist der Umgang mit dem »Verlorenen Transport« unter anderem deshalb ungewöhnlich. Auch sei nicht allgemein von Opfern des Faschismus gesprochen worden wie in jenen Jahren anderswo, erklärt der Professor, der bis zu seinem Ruhestand die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen leitete und sich nun um die Ausstellung kümmerte. Tröbitz sei außerdem ein Beispiel für ein zivilgesellschaftliches Erinnern, das sich nach dem Ende der DDR ungebrochen fortsetzte, erläutert Morsch. Dann sei noch Kontakt aufgenommen worden zu Zeitzeugen und ihren Angehörigen, die inzwischen meist in den Niederlanden oder in Israel lebten.

Hannah Pick-Goslar ist bei der Befreiung 16 Jahre alt und eine Jugendfreundin von Anne Frank. Sie wandert 1947 nach Palästina aus und arbeitet in Jerusalem als Säuglingsschwester. Raul Teitelbaum aus Prizren im Kosovo schließt sich einer Jugendorganisation der jugoslawischen Partisanen an, als erst die Wehrmacht in seine Heimatstadt einmarschiert und dann die italienischen Faschisten übernehmen. Teitelbaum besorgt in der Arztpraxis seines Vaters Medikamente für die Kämpfer in den Bergen und die Jugendlichen streuen Zucker in die Tanks oder lassen die Luft aus den Reifen, um die Laster der Faschisten zu stoppen. 1944 verhaftet und 1945 befreit, geht Teitelbaum 1949 mit seiner Mutter nach Israel, wird dort Journalist und leitet später in Bonn das Büro der größten israelischen Tageszeitung »Yedi’ot Acharonot«.

»Das Schimmste war für mich, den gelben Stern tragen zu müssen und der Ausschluss aus der Schule«, berichtet Mirjam Lapid-Andriesse über die Diskriminierung in der Nazizeit. Sie überlebt und geht 1953 nach Israel. »Mein Leben im Kibbuz und meine große Familie, das ist die Realisierung meines zionistischen Traums«, sagt sie. Als Willy Brandt (SPD) im Juni 1973 als erster amtierender Bundeskanzler Israel einen Staatsbesuch abstattet, ist sein Pilot Lapid-Andriesses ältester Sohn Ran. Der bittet seine Mutter vorher um ihr Einverständnis für diese sensible Aufgabe, wobei Brandt zwar Deutscher war, aber Antifaschist. Mirjam Lapid-Andriesse sagt: »Ich war begeistert, dass mein Sohn als Pilot der israelischen Armee einen deutschen Bundeskanzler durch den Luftraum des souveränen Staates fliegen sollte. Für mich verkörperte das unsere Wiedergeburt.«

Untypisch ist das Schicksal von Celino Bleiweiß, der, anders als die meisten Juden des verlorenen Transports, Tröbitz nicht schon im August 1945 wieder verließ. Geboren wird er 1937 im polnischen Przemyśl als Mechl Feiler. Seine Eltern werden von den deutschen Besatzern umgebracht, können ihren Sohn jedoch vorher an Richard Bleiweiß übergeben. Der hat Papiere, mit denen er Mechl und dessen Cousine Hela als seine eigenen Angehörigen ausgibt, die schon ermordet sind. Gemeinsam werden sie nach Bergen-Belsen verschleppt, überleben den Transport und bleiben noch bis 1949 in Tröbitz, bevor sie nach Dresden umziehen. Celino Bleiweiß behält den angenommenen Namen. Er studiert an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg, wird Regisseur und verfilmt Anfang der 1970er Jahre Joseph von Eichendorffs berühmte Novelle »Aus dem Leben eines Taugenichts«. Schließlich kehrt Bleiweiß von einer Reise nach Israel nicht in die DDR zurück und übersiedelt 1984 nach München. 2022 erinnert sich Bleiweiß, wie er als Kind mit anderen Jungen am Reifen eines Autoanhängers hockte und wie sie diskutierten, wie das mit dem Ventil funktioniere. »Das war für uns sehr interessant. Überhaupt nicht ein Wort haben wir verloren über das, was auf dem Wagen drauf war.« Er war beladen mit Leichen. »Dass da Tote zu sehen waren hinter dem Stacheldraht, das war Alltag.« Bleiweiß sagt: »Die Vergangenheit spielt insofern eine Rolle, als dass ich eine besondere Antenne für Antisemitismus habe.«

Professor Morsch meint, die Erinnerung dürfe nicht allein dem Staat überlassen bleiben. Die Ausstellung solle auch zum Nachdenken über die Rolle des Individuums anregen, über »die Chancen und Möglichkeiten, Gutes und Notwendiges zu tun und sich gegen Hass, Unrecht und Gewalt zu wehren«. Landtagspräsidentin Liedtke mahnt: »Wir müssen uns unserer Geschichte stellen.« Das Thema sei »notwendig und aktuell, denn jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger sehen sich ausgegrenzt, beschimpft, bedroht, attackiert – im 21. Jahrhundert, hier bei uns, in Deutschland, in Brandenburg«.

Zu den Gästen gehört am Dienstagabend auch Brandenburgs neuer Infrastrukturminister Detlef Tabbert (BSW). Er zeigt sich angetan von der Ausstellung und der Eröffnungsveranstaltung. Bariton Georg Streuber und Pianist Markus Syperek tragen dabei Lieder des Komponisten Hans Krieg vor, der im verlorenen Transport dabei war und noch bis 1961 lebte.

Die Ausstellung kann im Landtag am Alten Markt von Potsdam bis zum 27. Februar besichtigt werden, werktags 8 bis 18 Uhr; Eintritt frei.

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