Mit weißem Bäffchen und Schnallenschuhen auf dem letzten Weg

Die Brauerknechtsgilde trug in Stade einst die Pesttoten aus der Stadt. Sie wahrt die Bestattungskultur und passt sich dennoch neuen Bräuchen an

  • Volker Stahl, Stade
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Tradition der Brauerknechtsgilde droht auszusterben: Bodo Glandien (links) und Joachim Preiß suchen ehrenamtliche Mitstreiter.
Die Tradition der Brauerknechtsgilde droht auszusterben: Bodo Glandien (links) und Joachim Preiß suchen ehrenamtliche Mitstreiter.

Der Himmel ist grau, Bäume und Büsche sind entlaubte Gerippe. »Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir« prangt in goldenen Lettern am Giebel der Kapelle des Horstfriedhofs in der niedersächsischen Kleinstadt Stade. Davor stehen zwei Männer in altertümlichen Gewändern: Kniebundhosen, schwarzer Umhang, ein breites weißes Bäffchen, Schnallenschuhe an den Füßen und ein Dreispitz auf dem Kopf. Joachim Preiß und Bodo Glandien sind Brauerknechte. Sie gehören der wohl bundesweit ältesten noch existierenden Vereinigung an, der »Brauerknechtsgilde zu Stade von 1604«, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Verstorbene zu Grabe zu tragen.

Vermutlich gibt es die Brüderschaft schon länger als 420 Jahre, aber 1659 wurden durch einen Stadtbrand, dem auch das Rathaus zum Opfer fiel, zahllose Dokumente vernichtet. Ein Protokoll von 1712 belegt die Aufgabe der Gilde, sich um den Abtransport von Leichen zu kümmern. Damals wütete die Pest in Stade, und es ging nicht wie heute um einen würdigen Abschied von den Verstorbenen: Sie wurden schlicht beseitigt und in Kalkgruben außerhalb der Stadtmauern geworfen. Was Dokumente über die Entstehung der Gilde nicht hergeben, schildert die Legende umso farbiger.

Aus einer Liebesgeschichte soll die Gilde entstanden sein. Die Opfer der Pest wurden gemieden und blieben in den Gassen liegen. Um den hochgestellten Vater seiner angebeteten Gertrud zu beeindrucken, soll der Brauerknecht Peter Männken seine Kollegen überredet haben, sich der Leichen anzunehmen. Durch ihren ständigen Biergenuss seien sie gewissermaßen immun gegen den Pesterreger, glaubten sie. Ob es Ansteckungen gab, ist nicht überliefert. Aber die Gilde etablierte sich. Der markante »Trauerhabit« der Brauerknechte wurde 1735 erstmals beschrieben. Mit Bier hatten die Sargträger schließlich immer weniger zu tun: 1865 waren von 14 Gildenbrüdern nur noch drei im namensgebenden Gewerbe tätig.

Der Zweite Weltkrieg unterbrach die Geschichte der Gilde. Erst der Polsterer und Raumausstatter Hermann Abbenseth reaktivierte die Tradition und leitete die Brauerknechte von 1958 bis zu seinem Tod 2014. Er soll 18 000 Menschen auf ihrem letzten Gang begleitet haben. »Als ich vor 15 Jahren angefangen habe, hatten wir ungefähr 40 Prozent Sarg-Bestattungen«, berichtet Joachim Preiß; heute seien es nur noch die Hälfte. Ungefähr zehnmal im Monat kommen die Sargträger zum Einsatz. Dabei sind sie stets zu acht. Gelegentlich tragen sie einzeln Urnen über den Friedhof. Der Rückgang der Bestattungen im Sarg habe das Nachwuchsproblem entschärft, sagt Preiß. Aber die Brauerknechte suchen Verstärkung, selbst in der Fußgängerzone warben sie schon für ihr Ehrenamt.

Bis Ende der 60er-Jahre waren überwiegend selbstständige Handwerker in der Gilde. Sie konnten den Betrieb ihren Gesellen oder Ehefrauen überlassen, während sie zwischen 10 und 14 Uhr auf dem Friedhof beschäftigt waren. »Heute sind alle Rentner, sonst geht es ja nicht«, sagt der pensionierte Polizist Joachim Preiß. Bodo Glandien war Elektriker im Hamburger Hafen, andere Glasermeister, Landvermesser, Bauingenieur und Oberstudienrat. Sie sind zwischen 60 und 88 Jahre alt. Kurzfristige Erkrankungen sind eine Herausforderung für die aktuell zehn Aktiven. Pro Bestattung erhalten die Brauerknechte 20 Euro Aufwandsentschädigung, Fahrtkosten werden nicht erstattet. Es gab mal die Bestimmung, dass die Mitglieder nicht verheiratet sein durften, aber die wurde im Laufe der Zeit aufgehoben. Brüder sind sie allerdings nach wie vor. Auf die Frage, wie sie es mit Frauen in ihrer Gilde halten, reagieren Preiß und Glandien ein wenig gereizt. Einmal habe eine Frau sich bewerben wollen, erzählt Preiß. Das habe er dann mit einem Telefonat erledigt.

Aber die Brauerknechte sorgen sich ernsthaft um die Fortsetzung ihrer Tradition, nicht nur, weil der Nachwuchs fehlt, sondern weil die Bestattungskultur sich verändert. Der Wandel begann im 19. Jahrhundert, als der medizinische Fortschritt die Sterblichkeit verringerte und die Bevölkerung anstieg. Das wiederum führte zur Überbelegung der Friedhöfe, die sich rund um die Kirchen mitten in den Dörfern und Städten befanden. »In Hamburg«, heißt es in einer Abhandlung von 1840, »waren im Anfang dieses Jahrhunderts wegen der von den Kirchhöfen aus sich verbreitenden verpesteten Luft die in der Nähe befindlichen Wohnungen um die Hälfte wohlfeiler als in anderen Gegenden der Stadt«.

Zugleich kam die Feuerbestattung auf. Die erste Einäscherung in Deutschland fand 1874 in der städtischen Gasanstalt in Breslau statt, initiiert von Naturforschern unter der Anleitung von Carl Heinrich Reclam. Der Arzt und Bruder des Leipziger Verlegers Anton Philipp Reclam warb landauf, landab für die Einäscherung aus hygienischen Gründen. Die erste Leichenverbrennungsanstalt eröffnete 1878 im thüringischen Gotha, 1891 folgte Heidelberg. In Hamburg war zu dieser Zeit bereits ein Krematorium gebaut, aber man verschleppte im Rathaus die Inbetriebnahme. Als im Sommer 1892 eine Cholera-Epidemie ausbrach, die für über 8500 Tote in der Stadt sorgte, fand im November die erste Verbrennung in einem einer Kirche nachempfundenen Gebäude statt, das bald zur Touristenattraktion wurde.

Die christlichen Kirchen wehrten sich lange gegen eine Feuerbestattung. Sie beriefen sich auf eine »Wiederauferstehung des Fleisches«. Die evangelische Kirche schloss 1920 ihren theologischen Frieden damit, die katholische brauchte noch bis 1963. Das Regime der Nationalsozialisten regelte im Mai 1934 die Feuerbestattung gesetzlich und stellte sie dem Erdbegräbnis gleich. Auf die Nazis geht auch eine verbindliche ärztliche Leichenschau vor der Kremierung zurück. Sie bestimmten ebenfalls, dass die Asche der Verstorbenen nicht nach Gutdünken verstreut wird oder die Urnen mit nach Hause genommen werden dürfen, wie etwa in Holland oder Frankreich.

Mittlerweile überwiegen in Deutschland Urnenbestattungen. In Hamburg wurden 2023 vier von fünf Verstorbene eingeäschert, in Niedersachsen liegt der Anteil der Feuerbestattungen bei rund 75 Prozent. Damit sinkt der Platzbedarf auf den Friedhöfen. Auf dem kirchlichen Horstfriedhof in Stade sind die Lücken, die entstehen, wenn niemand mehr für die Gebühren aufkommt und das Erdgrab aufgelöst wird, inzwischen deutlich sichtbar und müssen gärtnerisch betreut werden. Die Liegefrist für die Gräber, ob Sarg oder Urne, beträgt hier mindestens 25 Jahre. Neu ist das Kolumbarium, in dem die Urnen oberirdisch in Stelen aufbewahrt werden.

Immer beliebter wird die Beisetzung im Wald. Marktführer bei dieser Bestattungsart sind die Firmen »Fried-Wald« und »Ruhe-Forst«, die sich ihre Namen rechtlich schützen ließen. Bereits 2006 pachtete »Fried-Wald« im Neukloster Forst, der zur Stader Nachbarstadt Buxtehude gehört, ein Areal für 99 Jahre, auf dem die Asche in biologisch abbaubaren Urnen vergraben wird. Ein Schild am Baum dient als Grabmal. Ein Kreuz und hölzerne Bänke markieren den »Andachtsplatz«, auf dem Trauerfeiern abgehalten werden können.

Muslime kamen im Bestattungswesen in Stade jahrzehntelang nicht vor. Sofern ihre Wurzeln in der Türkei lagen, ließen sie ihre Toten dorthin überführen – was jedoch mit erheblichen Kosten verbunden war. Für die seit den 80er-Jahren vor dem Bürgerkrieg im Libanon Geflohenen, die in der Kleinstadt überwiegend in prekären Verhältnissen lebten, kam das nicht infrage. Für sie war die nächstgelegene Möglichkeit der Bestattung der Friedhof in Hamburg-Öjendorf. Erst seit 2021 bietet einer der kommunalen Friedhöfe ein Gräberfeld für Muslime an.

Ein Gebäude, um die rituelle Waschung der Verstorbenen vorzunehmen, wie es bei Muslimen üblich ist, gibt es nicht. Dessen Bau und Unterhaltung stehe »in keinem Verhältnis zu den Nutzerzahlen«, heißt es. Waschungen müssen die Angehörigen daher selbst organisieren. Immerhin ist in allen Bundesländern außer Sachsen und Sachsen-Anhalt der Sargzwang für Muslime, die ihre Toten in Leinentücher hüllen, grundsätzlich aufgehoben. In Stade bleibt eine Genehmigung vom Gesundheitsamt des Landkreises erforderlich.

»Eine klassisch-religiöse Festlichkeit? Eine spirituelle Feier oder eine mit Rockmusik? Eine Vorführung von Erinnerungsfotos oder Filmaufnahmen?« So bewirbt das Krematorium in Stade seinen Service. Als es 1999 in Betrieb genommen wurde, war es erst die zweite privat betriebene Einäscherungsstätte in Deutschland. Hier wird die Trauerfeier nicht mehr obligatorisch von einem christlichen Geistlichen geleitet; Familien und Freundeskreise können auch freiberufliche Trauerredner engagieren und die Veranstaltung selbst gestalten. Nicht mehr die Friedhofskapelle, sondern die Trauerhalle des Krematoriums ist nunmehr der Ort zum Abschiednehmen.

Solange es sie noch gibt, sind die Brauerknechte dabei. Und sie sind anpassungsfähig: »Wir haben schon Beerdigungen mit muslimischen Ritualen mitgestaltet sowie orthodoxe Prediger erlebt«, sagt Joachim Preiß. Aber er ist 76 Jahre alt, und die Wege mit dem Sarg auf der Schulter kommen ihm zunehmend länger vor.

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