- Politik
- Vogtland
Eine Stadt als Wirtschaftsfaktor: Die Reichenbacher Rathaus GmbH
Wie sich eine Kleinstadt im Vogtland trotz begrenzter Möglichkeiten müht, ein Job- und Investitionsmotor zu bleiben
Vor dem Rathaus von Reichenbach weht seit Oktober 2023 eine blaue Fahne mit Friedenstaube im Wind. Aufgehängt hat sie Henry Ruß, der im März desselben Jahres zum Oberbürgermeister der Stadt gewählt worden war. Der langjährige Kommunalpolitiker der Linken wollte ein Zeichen setzen angesichts des Krieges in der Ukraine, des damals eskalierten Konflikts im Nahen Osten und weiterer militärischer Auseinandersetzungen in der Welt. Allerdings besaß die Stadtverwaltung keine Friedensfahne. »Wir haben sie dann extra anfertigen lassen«, sagt Ruß: »Sie wurde regional hergestellt von einer Firma in Plauen.«
Die Friedensfahne war nicht übermäßig teuer. Ein niedriger dreistelliger Betrag ging an die Firma in der Kreisstadt. Allerdings zeigt auch dieses kleine Beispiel: Kommunen sind wichtig für das Wirtschaftsleben einer Region. Eine 2017 vorgelegte Studie für den Bundesverband öffentlicher Banken betont sogar, sie seien »ein entscheidender Wirtschaftsfaktor« in Deutschland. Für die Bundesländer Niedersachsen und Bremen bezifferte eine 2020 angefertigte Untersuchung für den Verband Kommunaler Unternehmen (VKU) die Wertschöpfung der Mitgliedsunternehmen auf knapp neun Milliarden Euro. Das entspreche drei Prozent der Bruttowertschöpfung in den Bundesländern.
Kommunen stellen keine Autos her, ernten kein Getreide und handeln nicht mit Waren. Dennoch werden sie gelegentlich mit Unternehmen verglichen; manchmal ist von einer »Rathaus GmbH« die Rede. Das ist insofern nicht ganz unberechtigt, als Kommunen und kommunale Unternehmen zum einen große Arbeitgeber sind. Bundesweit beschäftigt der kommunale öffentliche Dienst immerhin rund 2,5 Millionen Menschen. Die 11 000 deutschen Kommunen gehörten »mit zu den größten Arbeitgebern«, heißt es auf dem Nachrichtenportal oeffentlicher-dienst-news.de. Die Beschäftigten sorgten dafür, dass »das öffentliche Leben funktioniert«.
Im Umfeld der kommunalen Unternehmen wie Stadtwerke oder Entsorger schätzt der Branchenverband VKU zudem, dass noch einmal doppelt so viele Jobs in anderen Bereichen gesichert werden: durch Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge. Laut Vergabebericht der Bundesregierung lösten deutsche Kommunen allein im ersten Halbjahr 2021 Aufträge im Wert von 16 Milliarden Euro aus, viele bei regionalen Firmen. Die Rede ist von »ausgeprägter Mittelstandsfreundlichkeit« bei den Vergaben.
Vergleicht man freilich Kommunen mit Unternehmen, muss auch gesagt werden: Die »Branche« geht durch schwierige Zeiten. Das gilt sowohl für ihre Rolle als Arbeitgeber als auch für ihre Funktion als Investitionsmotor, und am Beispiel einer Kleinstadt wie Reichenbach lassen sich die Probleme ganz gut besichtigen. Die Kommune mit ihren 20 000 Einwohnern ist, um im Bild zu bleiben, ein kleiner Mittelständler. Henry Ruß führt eine Verwaltung mit 108 Angestellten: Beschäftigte im Rathaus, dem Bürgerbüro, der Bibliothek oder drei Kitas, die von der Kommune betrieben werden. Außerdem gehört ihr ein Wohnungsunternehmen, in dem sich 16 Angestellte um 2000 Wohnungen kümmern. Und schließlich ist sie je etwa zur Hälfte an den Stadtwerken beteiligt, die 65 Menschen beschäftigen, sowie an einer Dienstleistungsgesellschaft mit 43 Personen. Unterm Strich arbeiten rund 300 Menschen bei der Stadt und deren Unternehmen. Insgesamt gibt es in Reichenbach 8600 Arbeitsplätze. Der Anteil der kommunalen Jobs liegt also rechnerisch bei gut drei Prozent.
Lange Zeit galt eine Anstellung im öffentlichen Dienst als äußerst attraktiv. Derlei Jobs hätten »in der Gesellschaft einen guten Ruf«, schreibt der Verband der kommunalen Arbeitgeber (VKA) und spricht von »sinnstiftenden Tätigkeiten in der öffentlichen Daseinsvorsorge«. Verwiesen wird auf geregelte Arbeitszeiten und faire Bezahlung. Laut dem Verband stiegen die Entgelte seit 2009 um 33 Prozent. Allein im Jahresbericht für 2023 wird ein durchschnittliches Gehaltsplus von mehr als elf Prozent in der jüngsten Tarifrunde bilanziert. Nicht zuletzt, betont der Verband, seien Kommunen »krisenfeste Arbeitgeber«.
Die Gewerkschaft Verdi sieht die Lage nicht ganz so rosig. Zum einen gebe es bei den Gehältern trotz der jüngsten Anhebungen »im Vergleich zur Privatwirtschaft weiter Nachholbedarf«, erklärt Catharina Schmalstieg, die Bundesfachgruppenleiterin Kommunalverwaltung. Zum anderen seien »die übertragenen Aufgaben in den letzten Jahren stetig angewachsen, während der Personalbestand schrumpft«. Dass die kommunale Daseinsvorsorge in der Regel trotzdem noch gut erledigt werde, liege »vor allem am Einsatz der Beschäftigten«. Es stelle sich aber bereits jetzt die Frage, welche Aufgaben die Kommunen in Zukunft überhaupt noch erledigen können.
Wie dramatisch die Lage in den Rathäusern und Kommunalbetrieben ist, zeigen Zahlen des zuletzt 2023 veröffentlichten DGB-Personalreports für den öffentlichen Dienst. Demnach schrumpfte die Zahl der Beschäftigten in dem Bereich wegen des massiven Abbaus in den 1990er Jahren um fast ein Viertel. Erst seit etwa 2008 gebe es laut DGB »leichte Korrekturen«. So stieg die Zahl der Mitarbeiter zuletzt geringfügig an, im kommunalen Bereich bundesweit binnen Jahresfrist um 44 000.
Allerdings arbeiten immer mehr Beschäftigte in Teilzeit, die Quote sei »rasant« auf jetzt 41 Prozent in den Kommunen gestiegen. Ein Grund dürfte neben dem hohen Frauenanteil, der im öffentlichen Dienst insgesamt bei 58 Prozent liegt, auch der hohe Altersdurchschnitt sein. Er ist darin begründet, dass über Jahre nur »sehr restriktiv Neueinstellungen vorgenommen wurden«, wie es in dem Report heißt. Jeder vierte Beschäftigte geht in den nächsten zehn Jahren in Rente, binnen 20 Jahren jeder Zweite. »Dem Staat«, warnt der DGB, »fehlen Fachkräfte«.
Henry Ruß hat im vorigen Sommer einen Personalgipfel einberufen. Mit seiner Belegschaft wollte er besprechen, »wie wir arbeitsfähig bleiben können«. Auch im Reichenbacher Rathaus gehen viele Beschäftigte straff auf die Rente zu. Oft ist es schwierig, Nachfolger zu finden. Der Arbeitsmarkt in der lange von Abwanderung geprägten Region in Südwestsachsen ist leer gefegt. Die Privatwirtschaft, die sich jahrelang durch ausgeprägte Niedriglöhne gegen die Konkurrenz behaupten wollte, reagiert mit steigenden Einkommen, die mittlerweile teils höher sind als im Reichenbacher Rathaus. Dort gilt zwar der Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes, und der Rathauschef betont: »Als Linker werde ich einen Teufel tun, dort auszusteigen.« Allerdings wird auch in den nur wenige Kilometer entfernten Rathäusern und Landratsämtern in Plauen und Zwickau nach TVöD bezahlt, wo anspruchsvollere Jobs und höhere Eingruppierungen locken: »Da sitzen wir am kürzeren Hebel«, sagt Ruß.
Zwar versucht man auch in der Kleinstadt, potenzielle Mitarbeiter zu umgarnen. Als kürzlich ein Fachangestellter für Bäderwesen benötigt wurde, weil sonst das Freibad hätte schließen müssen, lockte man mit einer um eine Stufe höheren Eingruppierung. Allerdings stellt sich dann zum einen schnell die Frage der Gerechtigkeit: »Mitarbeiter, die schon lange bei uns sind, fragen, warum sie nicht ebenfalls höhergestuft werden«, sagt Ruß. Zum anderen muss jede übertarifliche Bezahlung vom Stadtrat bestätigt werden: »Dort heißt es dann, das Geld fehle für die Sanierung von Straßen.«
Aufträge, etwa für den Straßenbau, spielen ebenfalls eine wichtige Rolle, wenn es um Kommunen als Wirtschaftsfaktor geht. Die Städte und Gemeinden bieten schließlich nicht nur Arbeitsplätze für viele Menschen, deren Einkommen dem örtlichen Handel, dem Handwerk und Gewerbetreibenden zugutekommen. Sie vergeben zudem auch Aufträge an Unternehmen: für die Sanierung einer Straße oder eines Wohnblocks, die Anfertigung neuer Möbel für die Kita oder die Reinigung des Rathauses. Insgesamt, heißt es in der Studie des Bundesverbands Öffentlicher Banken, hätten kommunale Gebietskörperschaften in Deutschland im Jahr 2016 mehr als 215 Milliarden Euro ausgegeben. Das entspreche einem Viertel der gesamten Staatsausgaben. Das kommunale Ausgabenvolumen mache damit rund sieben Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung aus.
»Die übertragenen Aufgaben sind in den letzten Jahren stetig angewachsen, während der Personalbestand schrumpft.«
Catharina Schmalstieg Gewerkschaft Verdi
Allerdings wäre weit mehr möglich. Der Bankenverband bilanziert, die Investitionstätigkeit der deutschen Kommunen habe sich in Relation zum Bruttoinlandsprodukt seit den 1990er Jahren fast halbiert. Hauptgrund sei, dass ihnen »die notwendige Finanzkraft fehlt«, weil ihnen Bund und Länder immer neue Aufgaben zugewiesen, ohne dass es einen angemessenen finanziellen Ausgleich gegeben hätte. Die Studie sollte untersuchen, wie Kommunen leichter an Kredite kommen, mit denen sie wiederum Investitionen in die Infrastruktur ankurbeln können.
Reichenbach nimmt schon lange keine Kredite mehr auf. Vielmehr steckt man jährlich hohe Beträge in die Tilgung eines früher aufgenommenen Darlehens. Ansonsten, sagt Rathauschef Ruß, gebe es kaum finanzielle Spielräume: »Wir sind permanent klamm.« Das Damoklesschwert eines Konsolidierungshaushalts und strenger Vorgaben der Kommunalaufsicht schwebe permanent über der Stadt. Diese erhält Zuweisungen vom Land gemäß ihrer Einwohnerzahl. Die müssen aber über eine entsprechende Umlage fast komplett an den Landkreis überwiesen werden. Ein Gutteil der Gewerbesteuer von jährlich rund fünf Millionen Euro fließt in die Finanzierung von Aufgaben, die formal »freiwillig«, aber für das städtische Leben enorm wichtig sind. Neben Bibliothek, Freibad und Museum gibt es in der Stadt das »Neuberinhaus«, das nach der in Reichenbach geborenen Schauspielerin und Theaterprinzipalin Friederike Caroline Neuber benannt ist. Die Stadt unterstützt das Haus, in dem Konzerte und Theateraufführungen stattfinden, mit 416 000 Euro im Jahr. Noch etwas mehr geht an die Vogtland-Philharmonie, die dort regelmäßig gastiert.
Trotz der schwierigen Lage investiert auch die Stadt Reichenbach. Zwischen 2021 und 2023 habe man 9,5 Millionen Euro für Baumaßnahmen ausgegeben und 22,2 Millionen für Dienstleistungen, sagt der Rathauschef. Derzeit wird für drei Millionen Euro ein historisches Hallenbad saniert, in dem der Schwimmunterricht für Schüler stattfindet. Bei der Vergabe von Aufträgen »prüfe« man, ob Tariflohn gezahlt wird, sagt der Linke-Politiker Ruß. Eine Verpflichtung dazu besteht nicht. Nur eine Handvoll Bundesländer, darunter Bremen und Thüringen, schreiben ab einem gewissen Auftragsvolumen vor, dass bestimmte Mindestlöhne gezahlt werden. Die meisten anderen beziehen sich auf allgemeinverbindliche Tarifverträge oder Branchenmindestlöhne. In Sachsen und Bayern allerdings gelten nicht einmal diese Mindeststandards.
Das Geld, das Reichenbach investiert, stammt zum Gutteil aus Fördertöpfen von Land, Bund und der EU, sagt Ruß: »Ohne Förderung geht gar nichts.« Für die Stadt sei es schon schwer, den Eigenanteil aufzubringen. Manchmal helfen Tricks. So wurde eine Straße zur Fahrradstraße umgewidmet, weil deren Sanierung zu 80 statt 50 Prozent gefördert wird. Generell komme man aber aufgrund der leeren Kassen um Abstriche bei Investitionen nicht herum: »Wenn das Ausbessern einer Straße nicht unbedingt notwendig ist, lassen wir es.«
Auch damit steht die Stadt im Vogtland nicht allein da. Laut der Studie des Bankenverbands seien in der Bundesrepublik zwischen 2003 und 2017 rund 46 Milliarden Euro an Infrastruktur nicht ersetzt worden. Insbesondere in strukturschwachen Regionen hätten Städte und Gemeinden mit schwachen Einnahmen sowie starken Ausgabensteigerungen für Soziales zu kämpfen, »wodurch sich erhebliche regionale Unterschiede in der finanziellen Ausstattung für Investitionszwecke ergeben«. Das ist fatal, weil die Studie auch betont, dass die Investitionstätigkeit der Kommunen erheblichen »Einfluss auf den Standortwettbewerb und die Anziehungskraft für Unternehmen und Arbeitnehmer« habe.
Henry Ruß und seine Mitarbeiter geben trotz der schwierigen Lage ihr Bestes, damit Reichenbach eine attraktive Stadt für ihre Bürger und die Wirtschaft bleibt. Der Rathauschef sagt jedoch, grundsätzlich könnten die Probleme nur von außen gelindert werden: von Land und Bund. »Die müssen uns finanziell besser ausstatten, sonst werden die Spielräume immer knapper.« Ruß plädiert dafür, etwa den Anteil der Kommunen an Umsatz- und Einkommensteuer zu erhöhen, »damit wir Luft zum Atmen bekommen«. Es ist eine Forderung, wie sie auch die kommunalen Spitzenverbände erheben. Diese warnten im Juli vor einer sich rapide verschlechternden Finanzlage. Für 2024 bezifferten sie das Defizit auf 13,2 Milliarden Euro. »Wenn Bund und Länder mit ihrer Finanzpolitik nicht grundlegend umsteuern«, heißt es in einer Erklärung von Städtetag, Landkreistag sowie Städte- und Gemeindebund, »werden die kommunalen Haushalte tief in den roten Zahlen bleiben.«
Henry Ruß sähe neben Änderungen bei den Steuern noch andere Möglichkeiten, wie Kommunen zu Geld kommen könnten. Er verweist auf den Verteidigungshaushalt und das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen: »Das wäre in den Kommunen besser aufgehoben.« Auch diese Botschaft verbindet er mit der Friedensfahne, die seit einem knappen Jahr vor dem Reichenbacher Rathaus weht.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.