Generalstreik gegen Todesstrafe

Ziviler Widerstand hat in den kurdischen Gebieten des Iran eine lange Tradition

  • Kaveh Ghoreishi
  • Lesedauer: 5 Min.
Viele Läden in den kurdischen Gebieten im Westen Irans waren wegen des Generalstreiks geschlossen.
Viele Läden in den kurdischen Gebieten im Westen Irans waren wegen des Generalstreiks geschlossen.

Ladenbesitzer und Geschäftsleute in den meisten Städten Ostkurdistans, den kurdisch dominierten Gebieten im Westen Irans, beteiligten sich am Mittwoch an einem eintägigen Generalstreik. Aufgerufen dazu hatten sechs kurdische politische Parteien, Organisationen und Menschenrechtsgruppen, um zwei zum Tode verurteilte kurdische politische Gefangene zu unterstützen: Varische Moradi und Pakhshan Azizi. Die beiden Frauen sitzen derzeit in der Frauenabteilung des Evin-Gefängnisses in Teheran ein.

Pakhshan Azizi, eine Sozialarbeiterin, reiste nach dem Angriff des Islamischen Staates (IS) in das Selbstverwaltungsgebiet Rojava in Nordsyrien, um mit der Hilfsorganisation Kurdischer Roter Halbmond zu arbeiten. Nach ihrer Rückkehr in den Iran am 4. August 2023 wurde sie verhaftet und in einem übereilten Gerichtsverfahren im Juni 2024 wegen »bewaffneten Aufstands« zum Tode verurteilt. Sowohl das Berufungsgericht als auch der Oberste Gerichtshof bestätigten das Urteil.

Aburteilung im Schnellverfahren

Nach Angaben der kurdischen Nachrichtenagentur ANF News habe das Oberste Gericht im Iran die Vollstreckung des Todesurteils gegen Pakhshan Azizi offenbar vorerst ausgesetzt. Einer der Anwälte, Maziar Tataei, schrieb demnach am Mittwoch auf X, einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gestellt zu haben. Bis das Oberste Gericht zu einem Ergebnis gekommen sei, werde die Hinrichtung ausgesetzt. Berichte halbstaatlicher iranischer Nachrichtenagenturen widersprechen jedoch diesen Informationen. Die Situation ist somit unklar.

Auch die Frauenrechtsaktivistin Varishe Moradi schloss sich während des Aufstands in Kobanê dem zivilen Widerstand an. Nachdem sie verletzt worden war, ging sie nach Suleimanijeh in Südkurdistan im Norden Iraks. Nach ihrer Rückkehr in den Iran im August 2023 wurde sie am Eingang der Stadt Sanandadsch verhaftet. Wie Pakhshan wurde auch sie im November 2024 in einem Schnellverfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht zum Tode verurteilt. Beide Verhaftungen und Verurteilungen fielen in die Hochphase der Protestbewegung »Jin, Jiyan, Azadi« (Frau-Leben-Freiheit) nach dem Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini in iranischer Haft.

Behörden drohen den Streikenden

Schon vor Beginn des Streiks hatte es Drohungen und Druck seitens der Behörden der Islamischen Republik Iran gegen die Organisatoren gegeben. Die Bewohner der westlichen Kurdengebiete seien vor der Teilnahme an dem Generalstreik gewarnt worden, berichtete die Menschenrechtsorganisation Hengaw. Bis Donnerstag wurden Hengaw zufolge sechs Menschen, die sich an dem Streik beteiligt hatten, ohne richterlichen Beschluss festgenommen und an einen unbekannten Ort gebracht.

Der Generalstreik fand in ganz Kurdistan breite Unterstützung, auch in großen Städten wie Sanandadsch, Kermanshah, Mahabad und Saqqez, Jina Aminis Heimatstadt. Geschäfte und Basare wurden komplett geschlossen, Regierungsbüros blieben leer, während die Menschen ihre Unterstützung für Varishe Moradi und Pakhshan Azizi demonstrierten.

Breite Unterstützung für den Streik

Darüber hinaus traten mindestens 35 Gefangene der Frauenabteilung des berüchtigten Evin-Gefängnisses in Teheran aus Solidarität mit dem Streik in Kurdistan in einen eintägigen Hungerstreik, bestätigte das Kurdistan Human Rights Network.

Die Polizei hat Berichten von Aktivisten zufolge Dutzende von Geschäften entweder abgeriegelt oder für den Fall, dass der Streik weitergeht, zur Schließung markiert. Demnach haben Sicherheitsbeamte die Ladenbesitzer per Telefon oder Textnachricht gewarnt, dass ihre Geschäfte geschlossen würden, wenn sie den Streik fortsetzten.

Streiks haben lange Tradition

Der Generalstreik vom Mittwoch ist nicht der erste seiner Art in Ostkurdistan. Der erste nennenswerte Generalstreik fand ein Jahr nach der Revolution von 1979 statt. Als die iranische Zentralregierung einen Angriff auf die Stadt Mariwan plante, rief der revolutionäre Stadtrat zu einem Generalstreik auf. Der Streik endete damit, dass die Zentralregierung auf die Forderungen der Bevölkerung einging.

Bedeutsam war auch ein Generalstreik während der »Jin, Jian, Azadi«-Proteste. Nach der Beerdigung von Jina Mahsa Amini riefen die kurdischen politischen Parteien für den Folgetag zu einem Generalstreik auf. Dieser Streik erhielt massive Unterstützung und verwandelte die Proteste von einem lokalen Ereignis in eine landesweite Bewegung.

Strategien des zivilen Widerstands

Die Hinwendung der Kurden zu alternativen politischen Strategien wie »politischen Märschen« und »politischen Generalstreiks« ist vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen: erstens auf die systematische Beschneidung politischer Partizipationsmöglichkeiten und zweitens auf eine politische Auffassung, die darauf abzielt, jede Person aktiv an der Veränderung und Gestaltung ihres eigenen Schicksals zu beteiligen. Nur wenige politische Strategien sind so wirksam in der Mobilisierung großer Teile der Gesellschaft wie der Generalstreik. In dieser Hinsicht standen politische Protestmärsche und politische Generalstreiks in krassem Gegensatz zu den auferlegten Rahmenbedingungen der bürgerlichen Demokratie wie etwa Wahlen.

Diese in der kurdischen Gesellschaft verwurzelten Traditionen gedeihen dank des Fortbestehens alternativer demokratischer Institutionen, dynamischer ziviler Organisationen (einschließlich politischer Parteien) und einer widerstandsfähigen Zivilgesellschaft. Während ein Großteil der iranischen Gesellschaft jahrelang an Wahlen und sogenannten Reformen festhielt, entwickelte die kurdische Gesellschaft alternative Strategien des zivilen Widerstands, die es ihr ermöglichen, diese Traditionen in kritischen Momenten wieder aufleben zu lassen.

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