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Gestörtes Verhältnis

Ohne Erinnerungsarbeit bleibt die Wirklichkeit ein Schrecken. Nicht verarbeitetes Geschehen bleibt als »unterirdisches Wissen« erhalten

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 2 Min.
Dem Vergessen übergeben? Ein zugewachsener Grabstein auf einem jüdischen Friedhof
Dem Vergessen übergeben? Ein zugewachsener Grabstein auf einem jüdischen Friedhof

Der Kolumnist Yossi Bartal fragte unlängst im »nd«, ob es nicht besser wäre, die Vergangenheit ruhen zu lassen – auch und gerade im Hinblick auf die Shoah. Welche Auswirkungen es für eine Gesellschaft haben kann, in der die politische Bildungsarbeit über lange Zeit ausbleibt, ist beim Nachbarland Österreich gut zu beobachten: Das Narrativ, dass Österreich das erste Opfer gewesen sei, ein von Nazideutschland besetztes Land, hat sich durchgesetzt. Nur dass in diesem Teil des Deutschen Reiches 1942 etwa 688 000 Männer und Frauen der NSDAP angehörten, also 8,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Aber wen interessiert das?

In der Alpenrepublik ist die Verleugnung der Geschichte wieder eine Geschichte für sich. Erinnert sei nur an den früheren Bundespräsidenten Kurt Waldheim: Nicht er soll Mitglied einer SA-Reiterstandarte gewesen sein, sondern sein Pferd. Noch am 20. April 1945, also zum »Führergeburtstag«, wurde dem Ordonnanzoffizier des Oberkommandos der 12. Armee das »Kriegsverdienstkreuz I. Klasse mit Schwertern« verliehen. Das bekam ja wahrscheinlich jeder, oder? Von den Verbrechen der Wehrmacht jedenfalls wollte Waldheim nichts gewusst haben. Und weil in Österreich auch die Mehrheitsbevölkerung mit derlei Geschichte nicht weiter behelligt wurde, stellt dort die rechtsradikale FPÖ demnächst den Kanzler.

Vergessen macht nicht frei und schon gar nicht, wie es die Operette »Die Fledermaus« seit 1874 verheißt, glücklich. Solcher Art Umgang mit der Erinnerung hat über Generationen hinweg, davon ist auszugehen, bei nicht wenigen Menschen eine tiefenpsychologische Dynamik entwickelt. Historische Ereignisse, die nicht erzählt, nicht thematisiert werden, so der österreichische Gedenkstättenpädagoge Peter Gstettner, verschwinden nicht einfach aus unserer Gedankenwelt; die kollektive Erinnerung daran versinkt stattdessen ins gesellschaftlich Unbewusste – wie in einem Orkus, sei es ein Totenreich, ein »schwarzes Loch«, das alle unterdrückten Ängste, Wünsche und Erinnerungen aufnehme.

Das Problem dabei: Die Energien dieses nicht verarbeiteten Geschehens bleiben als »unterirdisches Wissen« erhalten. Die Folge: Mit der Zeit entwickeln die verdrängten Gedanken, Gefühle und Erinnerungen ein destruktives Eigenleben. Die Erinnerung, die man eigentlich vergessen wollte, ist jederzeit bereit, aus dem Orkus wieder aufzusteigen und den sich dunkel erinnernden Menschen zu quälen. Eine qualifizierte Erinnerungsarbeit, etwa durch Museen und Gedenkstätten, ist daher im Sinne aller.

Die Wirklichkeit der Menschen besteht nicht nur aus ihrer Gegenwart und ihren Wünschen an die Zukunft, sondern auch aus ihrer Vergangenheit. Was wir sind, sind wir geworden. Wenn Menschen nun ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Geschichte haben, dann leben diese Menschen in einer gestörten Wirklichkeit. Das gilt auch für Linke.

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