- Politik
- Klage gegen Grenzkontrollen
»Migration ist ein Menschenrecht und keine Gefahr«
Ein polnischer Staatsbürger verklagt Deutschland wegen Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze. Die verstoßen gegen EU-Recht, erklärt sein Anwalt.
Herr Tometten, Ihr Mandant Jakub Wolinski betont, dass er Schengen verteidigen möchte. Warum?
Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen ist eine der größten Errungenschaften, wahrscheinlich sogar die größte Errungenschaft der Europäischen Union. Und Kontrollen an den Binnengrenzen stellen dies ganz konkret in Frage. Das darf nicht einfach hingenommen werden.
Welche Bedeutung haben die Kontrollen für Menschen wie Herrn Wolinski, die in Grenzregionen leben?
Vor der Abschaffung der Binnengrenzkontrollen stand man bei jeder Fahrt ins Ausland – in den Urlaub, bei Geschäftsreisen – an jeder Grenze uniformierten Personen gegenüber. Das ist nicht schön und auch sehr zeitraubend, und für Menschen, vor allem wenn sie in Grenzstädten wie Görlitz oder auch Frankfurt/Oder oder Kehl leben, beeinträchtigt das ganz konkret den Alltag auf dem Weg zur Arbeit, zur Universität, zu Freunden.
Und speziell Ihr Mandant?
Er muss auf dem Weg zur Arbeit, zu Besuch bei Verwandten, zur Teilnahme an Veranstaltungen, wegen Aktivitäten der Kinder, regelmäßig, das heißt wöchentlich mehrmals, die Grenze überqueren. Es geht nicht nur um Freizeit, aber auch.
Der Berliner Rechtsanwalt Christoph Tometten vertritt Mandant*innen in Fragen des Asyl- und Aufenthaltsrechts, des Staatsangehörigkeitsrechts und des Freizügigkeitsrechts.
Der Schengener Grenzkodex erlaubt temporäre Grenzkontrollen in Notfällen. Fällt aus ihrer Sicht Migration nicht darunter?
Migration ist ein Menschenrecht und keine Gefahr.
Kritiker*innen argumentieren, dass Grenzkontrollen ein notwendiges Mittel seien, um potenzielle Sicherheitsrisiken zu managen. Zieht dieses Argument?
Selbstverständlich gibt es Sicherheitsbelange, die auch mit dem grenzüberschreitenden Verkehr von Personen und Gütern zusammenhängen. Es gibt sicherlich ein öffentliches Interesse, die Einfuhr von gefährlichen Gütern zu reglementieren. Es gibt ein Interesse daran, dass Straftäterinnen nicht einfach die Grenze überqueren, um sich dem Zugriff von Strafverfolgungsbehörden zu entziehen. Hier sollten die deutschen Behörden aber zielgerichtet mit den Behörden der Nachbarstaaten zusammenarbeiten. Zielgerichtet heißt eben, dass man nicht pauschal alle Bürgerinnen, die die Grenze überqueren, Kontrollen aussetzt, sondern andere, wohl auch intelligentere Wege findet, die Zusammenarbeit unterschiedlicher Sicherheitsbehörden effektiver zu gestalten.
Deutschland hat ja die angeblich »temporären« Grenzkontrollen im Migrationsbereich das erste Mal 2016 eingeführt. Sie müssen jedes halbe Jahr gegenüber der EU-Kommission neu begründet werden. Was sind da die Regeln?
Die Wiedereinführung und auch die Verlängerung von Kontrollen an den Binnengrenzen sind nur möglich, wenn es der Abwehr einer Gefahr für die innere Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung dient. Aber eben auch nur dann, wenn es zur Gefahrenabwehr erforderlich ist. Auch dann können diese Kontrollen nur für einen bestimmten Zeitraum durchgeführt werden. Das Bundesinnenministerium verwendet zur Rechtfertigung der Verlängerung der Kontrollen unterschiedliche Begriffe, um aber eigentlich immer nur Migration als Gefahr für die innere Sicherheit darzustellen. Das ist so nicht zulässig.
Oft wird gesagt, für die Aufhebung der Binnengrenzen müssten Sicherheitsmaßnahmen an der EU-Außengrenze gestärkt werden. Was halten Sie davon?
Wer sich die EU-Außengrenzen anschaut, sieht dass Europa schon jetzt einer Festung gleicht. Und wer die weitere Sicherung der Außengrenzen fordert, meint damit in aller Regel die völkerrechtswidrige Zurückweisung von Schutzsuchenden ohne rechtsstaatliches Verfahren. Das schafft auch keine Sicherheit.
Könnte der Ausgang Ihrer Klage ein Signal an andere Länder sein? Welche Symbolwirkung hat Deutschland hier?
Kontrollen an den Binnengrenzen über einen längeren Zeitraum – ich spreche jetzt nicht von drei Tagen, weil irgendwelche Hooligans zu einem Fußballspiel anreisen – sind nicht nur in Deutschland rechtswidrig, sondern auch in Frankreich, in Dänemark, in Österreich und den anderen Staaten, die solche Kontrollen wieder eingeführt haben. Und wenn in Deutschland klargestellt wird, dass das rechtswidrig ist, dann hat das natürlich auch europaweit Relevanz.
Es wird ja von rechten Kreisen – auch Journalist*innen – gern behauptet, Deutschland habe während einer angeblichen Flüchtlingskrise im Jahr 2015 seine Grenzen »geöffnet«. Was halten Sie von dieser Formulierung?
Deutschland hat die Grenze zu Österreich nicht geöffnet, denn sie war schon offen und das auch zu Recht. Die Schließung der Grenze wäre hingegen rechtswidrig gewesen, auch faktisch gar nicht durchsetzbar.
Inwiefern hat Ihre Klage eine politische Bedeutung, im Sinne einer strategischen Prozessführung, wie es ja auch manche Nichtregierungsorganisationen machen?
Die Klage ist auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer bestimmten Grenzkontrolle an einem bestimmten Tag gerichtet. Das geht prozessrechtlich auch gar nicht anders. Das heißt, wenn die Klage Erfolg hat, dann wird das Gericht lediglich feststellen, dass diese eine Grenzkontrolle rechtswidrig war. Davon hat mein Mandant natürlich an sich nicht viel und deswegen steht bei solchen Klagen wie ganz oft bei polizeirechtlichen Klagen das Interesse im Vordergrund, allgemein zu klären, dass ein bestimmtes Verhalten – in diesem Fall der Bundespolizei – rechtswidrig ist. Das ist in diesem Fall meines Erachtens nicht deshalb rechtswidrig, weil die Bundespolizei das Recht falsch anwendet, sondern weil das Recht an sich, also die Einführung der Kontrollen, europarechtswidrig ist. Deswegen hat die Klage natürlich strategische Bedeutung.
Auch die Regierung in Polen lehnt die wiedereingeführten Grenzkontrollen in Deutschland ab. Herr Wolinski hat dazu angedeutet, dass er keine anti-deutsche Haltung fördern möchte. Was ist damit gemeint?
Es geht in dem Verfahren nicht um deutsch-polnische Streitigkeiten. Ich vertrete ja auch nicht die polnische Regierung, sondern Herrn Wolinski. Aus Sicht von Polen steht der europäische Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts insgesamt in Frage. Es geht um Europa als Ganzes und nicht um irgendwelche Feindseligkeiten oder Animositäten.
Gibt es Präzedenzfälle, in denen schon mal so etwas Ähnliches verhandelt oder Recht gesprochen wurde?
Der Europäische Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass die Verlängerung von Grenzkontrollen in einem gleich gelagerten Kontext rechtswidrig ist. Ausgangspunkt waren die Kontrollen an der österreichisch-slowenischen Grenze, die im Grunde mit derselben Begründung wie in Deutschland durchgeführt wurden. Auch das Landesverwaltungsgericht Steiermark hat daraufhin entschieden, dass diese Kontrollen rechtswidrig sind. In Deutschland hat das Verwaltungsgericht München im Januar 2024 am Rande eines Urteils festgestellt, dass die Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze rechtswidrig sind – eine Klage wurde allerdings aus prozessrechtlichen Gründen abgewiesen. Das Berufungsverfahren ist beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof anhängig. Ich rechne damit, dass in den kommenden Monaten über die Berufung entschieden wird.
Wann und wo wird dann Ihre Klage verhandelt und wann ist mit einem Urteil zu rechnen?
Unsere Klage wurde beim zuständigen Verwaltungsgericht Dresden erhoben, weil Görlitz in diesem Gerichtsbezirk liegt. Dazu wird voraussichtlich eine mündliche Verhandlung terminiert. Wann das Gericht entscheidet, kann ich nicht vorhersehen.
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