- Kultur
- Isidore Isou
Aufstand der Jugend
Vor hundert Jahren wurde der erfindungsreichste Künstler der Moderne geboren: Isidore Isou
Dreimal hat sich ein jüdischer Messias in unser Jammertal verirrt. Der erste heißt Jesus von Nazareth, der zweite Schabbatai Zwi (1626–1676), der dritte Isidore Isou (1925–2007). Das Skandalon des Nazareners wirkt bis heute nach, an den haarsträubenden Schabbatai Zwi erinnern sich nur noch ein paar Jüdinnen und Juden, an den vor gerade erst hundert Jahren geborenen Isou so gut wie niemand mehr.
Dabei hatte alles so gut angefangen. Isidor (noch ohne französisches Auslaut-»e«) Goldstein, der Sohn einer liebenden Mutter, die ihn zärtlich »Isou« nennt, und eines Wirts mit »stählernem Willen«, der ihn häufig verdrischt, wird in Rumänien geboren, schmeißt die Schule schon mit 12, liest Dostojewski mit 13, Marx mit 14, Proust mit 16. Er schreibt für zionistische Zeitschriften, zuerst für »Palestina«, die im Untergrund erscheinen muss, da die »Eiserne Garde« das »Land von ›jüdisch-kommunistischen‹ und anderen ›Vampiren‹ des moldawisch-walachischen Volkes säubern« will, wie sich Isou selbst erinnert. Seinen zionistischen Kampfgefährten und ihm gelingt es, Rumänien hinter sich zu lassen. Sie gehen nach Palästina, er nach Paris.
Und in Paris tut er etwas, was man in unserer Epoche der Migration und der faschistischen Abwehr von Migration gar nicht genug bewundern kann: Anstatt sich klein zu machen, ernennt sich der Zwanzigjährige kurzerhand zum Größten. Schon zwei Tage nach seiner Ankunft dringt er unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zum Leiter des Verlags Gallimard vor und überredet ihn, einen Roman zu drucken, der schon im Titel »Anerkennung eines Namens und eines Messias« (1947) fordert.
Er schmeißt die Schule schon mit 12, liest Dostojewski mit 13, Marx mit 14, Proust mit 16.
In dem Roman heißt es, von der Kriegs- und Nachkriegszeit werde nichts bleiben außer Stalin und Isou, dessen heilige Aufgabe es sei, Frankreich zu judaisieren. Es gebe »gar keinen anderen möglichen Menschen als den Juden«, weil die sich selbst hassenden Christen ihren Gott schon gehabt hätten, die Juden die Menschheit aber lehrten, sich selbst zu vergöttlichen. Erlösung bringe allein der »Erfolgsmann«, allen voran Messias Isou, der größte Philosoph, Wissenschaftler, Dichter, Künstler seit Menschengedenken. Damit ist die frohe Botschaft in der Welt, und kein Geringerer als der Philosoph Georges Bataille vernimmt sie. Er nennt Isous Roman »ein berührendes, geschmackloses, bescheuertes, misslungenes, pubertäres, geniales, auch lächerliches Buch, so peinlich wie ein nackter Hintern«, was, denkt man an die nackten Hintern in Batailles Werk, als Lob gewertet werden muss.
Schon scharen sich die Jünger um den Messias. Seinen »Erzengel«, vielmehr seinen Propheten Gabriel Pomerand hat er vor dem Gebäude der Jüdischen Volksunion kennengelernt. Pomerand springt abends auf die Tische der Pariser Cafés und deklamiert lettristische Gedichte. Der Lettrismus, also die Kunst der Buchstaben, ist die grandiose Entdeckung von Isou. Wie bei einem Messias nicht anders zu erwarten, wird sie ihm geoffenbart, und zwar exakt am 19. März 1942. Damals, noch in Rumänien, findet er in einer Schrift des Kulturphilosophen Hermann Graf Keyserling den schönen Satz: »Die Dichtung besteht aus Wörtern.« Da Isou den Keyserling auf Französisch liest, eine Sprache, die er erst seit dem Vorjahr erlernt, verwechselt er »vocables« (Wörter) mit dem rumänischen »vocale« für »Vokale«.
Es ist das produktivste Missverständnis des Jahrhunderts. Denn von diesem schicksalhaften Tag an dichtet er nicht nur in von Wörtern befreiten Vokalen und Konsonanten, er schafft aus Lauten und Körpergeräuschen Musik- und Theaterstücke (»Schreie für fünf Millionen ermordete Juden«; 1947). Er überzieht Gemälde und einen großartigen Film aus »found footage« oder Überresten (»Traktat von Geifer und Ewigkeit«; 1951) mit Zeichen aller Art. Vor allem schart er begabte Gefolgsleute – zu nennen sind der Anarchist Maurice Lemaître, der Mitbegründer des »Neuen Realismus«, François Dufrêne, und der spätere Situationist Guy Debord – um sich, die auch mit Störungen von Lesungen und Gottesdiensten auf sich aufmerksam machen. Die erste Zeitschrift der Gruppe heißt »Die lettristische Diktatur«. Für den größten Skandal sorgt Isou selbst mit einer Pornografie, »Isou oder die Mechanik der Frauen« (1949), deren 1500 Exemplare im Nu verkauft sind. Der Autor wird verhaftet und zu acht Monaten Gefängnis auf Bewährung sowie einer empfindlichen Geldstrafe verurteilt.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Bis ans Ende seines Lebens soll Isou Schriften zu allen Themen des »kladologischen«, also sich wie Äste eines Baums verzweigenden Weltwissens vorlegen, mit abnehmendem Erfolg. Aus dem kaum zu überschauenden Werk sei die laut André Breton »beste Idee« Isous herausgehoben: »Der Aufstand der Jugend« (1950). Die Jungen sind für Isou »die Sklaven, die Werkzeuge, der Luxus, das Eigentum der andern, und zwar unabhängig von ihrer Klasse, denn sie haben nicht die ›freie Wahl‹, ihre Familie entscheidet für sie«. Diesen Ausgeschlossenen müsse mittels verschiedener Maßnahmen – Verkürzung der Schulzeit, Abschaffung des Abiturs, Steuersenkung, Startkapital – Marktzugang verschafft werden. Indem Isou nicht auf das Proletariat, sondern auf Außenseiter setzt, nimmt er die Politik Herbert Marcuses vorweg, jedoch mit einem entscheidenden Unterschied: das System soll nicht verändert, bloß verjüngt werden.
Allerdings sind mit den »Jungen« bei Isidore Isou immer auch die Flüchtlinge gemeint, also diejenigen, denen fast alle Parteien Europas und der USA nun unüberwindliche Grenzen setzen wollen. Mag der Politiker Isou ein liberaler Reformist gewesen sein, erscheint sein Aufstand unter heutigen Bedingungen doch als revolutionär.
Frédéric Acquaviva: Isidore Isou. Griffon, Neuchâtel 2018 (in französischer Sprache), 279 S., geb., 68 €.
Isidore Isou. Die Zeichen des Messias, in: »Schreibheft«, Nr. 78, 2012, 113 S., 16,50 €, zu bestellen über schreibheft@netcologne.de
Die Elke und Arno Morenz Collection (EAMC), Berlin, Sybelstr. 62, veranstaltet am 24.2. einen Gedenkabend für Isidore Isou.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.