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Radikalisierung: Die Zeitenwende des Friedrich Merz

Szenen einer Radikalisierung: Der Kanzlerkandidat der Union vollzieht kurz vor der Wahl einen Rechtsruck. Ein Kommentar

Die Zeitenwende des Friedrich Merz: nicht nach vorn, sondern mit der AfD nach rechts
Die Zeitenwende des Friedrich Merz: nicht nach vorn, sondern mit der AfD nach rechts

Was Friedrich Merz in diesen Tagen tut, ist weitaus mehr als die übliche Wahlkampfpolemik. Es ist ein hochgefährliches Spiel mit dem Feuer. Indem der Kanzlerkandidat der Union kurz vor der Bundestagswahl eine rabiate Verschärfung der Migrationspolitik fordert, stellt er das demokratische Koordinatensystem infrage. Die Verschärfung, die er von den anderen Parteien ultimativ verlangt, ist in Teilen verfassungsrechtlich fragwürdig, etwa was die Gewaltenteilung angeht. Sie ist unter dem Aspekt der Humanität indiskutabel. Und zu alledem ist sie unpraktikabel, was die komplette Kontrolle der Grenzen betrifft.

Das sollte dem Politiker Merz bewusst sein. Dass er es dennoch versucht, ist Ausdruck eines rücksichtslosen Politikstils. Der tragische Mordanschlag von Aschaffenburg muss für plumpesten Wahlkampfpopulismus herhalten. Das Sicherheitsbedürfnis der Menschen wird für eine Attacke auf Demokratie und Rechtsstaat benutzt.

Friedrich Merz radikalisiert sich vor den Augen der Öffentlichkeit. Wir erleben, wie ein Politiker alle Hemmungen verliert. Während mehr als 120 Bundestagsabgeordnete, initiiert von einem Christdemokraten, ein Verbotsverfahren gegen die AfD anstreben, macht der CDU-Vorsitzende die Rechtsaußen-Partei salonfähig. Denn er erfüllt nun, was die AfD schon lange verlangt. Erst kürzlich forderte deren Vorsitzende Alice Weidel die CDU auf, gemeinsam das Asylrecht zu verschärfen. Merz liefert prompt und bedient die Remigrationsfantasien der AfD. Falls er es nicht weiß: Gerade im Umfeld des Holocaust-Gedenktages könnte er hier und da gelesen haben, was in der deutschen Geschichte herausgekommen ist, als Erzkonservative und Nationalisten den Nazis den Weg bereitet haben.

Es ist nicht zutreffend, wenn Merz behauptet, ihm sei egal, wer seinen Forderungen im Bundestag zustimmt – Hauptsache, Mehrheit. Es ist auch nicht zutreffend, dass sein Katalog ein Angebot an SPD und Grüne sein soll. Er weiß, dass das nicht funktioniert; erst recht nicht, wenn er jegliche Diskussion ausschließt und lediglich Gefolgschaft verlangt. Merz spekuliert bewusst auf eine Mehrheit, die inhaltlich nur mit der AfD zustande kommen kann. Mit der AfD als möglicher Mehrheitsbeschafferin will er SPD und Grüne erpressen. Dass sich Wagenknechts BSW und Lindners FDP als Erfüllungsgehilfen gemeldet haben, verwundert schon niemanden mehr. Auch hier gibt es offenbar kaum noch Hemmungen.

Es ist ein Wettlauf der Unmenschlichkeit, ungeniert angefeuert von einem US-Milliardär, der im Umgang mit NS-Anspielungen völlig schmerzfrei ist. Die Frage ist, welche Koalitionsoptionen Merz sich mit seiner Bulldozermethode nach der Wahl noch offenhalten will. Von der Ankündigung, die AfD zu halbieren, ist nichts übrig, sie ist im Gegenteil deutlich stärker geworden. Auch dem BSW gelingt es nicht, wie versprochen die AfD zu schwächen, indem es sie teilweise kopiert. Stattdessen gerät es jetzt selbst in Schwierigkeiten, auch weil andere in der Migrationsdebatte viel schriller sind. Was CDU, BSW und FDP tun, ist die beste Wahlwerbung für die AfD.

Der Umgang eines Landes mit Minderheiten, mit Menschen in Not war schon immer ein Gradmesser für dessen Humanität, für die Stabilität seiner demokratischen Grundlagen. Wenn es hier ernsthaft bröckelt, wenn hier Ausgrenzung und Kälte, Gleichgültigkeit und Feindseligkeit die Oberhand gewinnen, werden nach und nach auch andere Hemmschwellen überschritten.

Wir leben in einer Zeit, in der sich entscheidet, ob Deutschland und seine Nachbarn demokratisch bleiben oder in finstere, vordemokratische Zeiten zurückfallen. Wobei Deutschland wegen seiner Größe, seiner Wirtschaftskraft und seiner Geschichte eine wesentliche Rolle in Europa zukommt. Die Entscheidung über den künftigen Weg dieser Gesellschaft fällt nicht nur an den Wahlurnen. Sie fällt auch im Alltag, bei Demonstrationen gegen rechts, im zivilgesellschaftlichen, demokratischen Engagement. Und nicht zuletzt mit einer Politik, die nicht zwangsläufig schwere soziale Verwerfungen produziert oder achselzuckend hinnimmt, sondern ein menschenwürdiges Dasein für alle ermöglichen will, die im Lande leben. Aber wo findet sich eine Mehrheit dafür? Nicht ausgeschlossen, dass wir auf eine Situation zusteuern, zu der uns nächste Generationen fragen werden: Was habt ihr damals getan, um das Schlimmste zu verhindern?

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