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Mexikos Megaprojekte im Dschungel: Verrat an den Maya

Die mexikanische Regierung treibt die touristische und wirtschaftliche Erschließung des Südens voran – zum Unwillen der indigenen Bevölkerung

  • Victor Hübotter, Felipe Carillo Puerto
  • Lesedauer: 7 Min.
Eine Schneise durch den Dschungel: Der »Tren Maya« ist mehr als eine Bahnstrecke. Die Regierung erhofft sich davon einen Wirtschaftsaufschwung im südlichen Mexiko, den die indigene Bevölkerung aber gar nicht will.
Eine Schneise durch den Dschungel: Der »Tren Maya« ist mehr als eine Bahnstrecke. Die Regierung erhofft sich davon einen Wirtschaftsaufschwung im südlichen Mexiko, den die indigene Bevölkerung aber gar nicht will.

Es ist eine Zäsur: Hunderte Menschen aus indigenen Gemeinden des südlichsten mexikanischen Bundesstaates Chiapas sind in den vergangenen Wochen und Monaten nach Guatemala geflohen. Normalerweise findet diese Bewegung in die entgegengesetzte Richtung statt, in den großen Migrationsströmen aus Mittelamerika in Richtung Norden. Doch es ist die zunehmende Gewalt der immer mächtiger werdenden Kartelle, die täglichen Schießereien, Entführungen und Morde, die nun vor allem indigene Kleinbäuer*innen in Chiapas aus ihren Dörfern vertreibt.

Die konkurrierenden Kartelle kontrollieren inzwischen weite Teile der Region, wichtige Grenzübergänge zwischen Guatemala und Mexiko sind kaum noch passierbar. Eine Militarisierung Südmexikos durch den Staat führt derweil nicht zu einer Eindämmung ihres immer offener ausgetragenen Terrors, im Gegenteil richten sich die Aktionen der Streitkräfte gegen jene, die sich trotz der Gefahren von Entführung und Menschenhandel gen USA bewegen. Erst vor Kurzem starben sechs junge Menschen, als Soldaten das Feuer auf einen Lastwagen mit 33 Migrant*innen eröffneten.

Nur wenige Monate zuvor, beim Antrittsbesuch des neu gewählten guatemaltekischen Präsidenten Bernardo Arévalo bei seinem damaligen mexikanischen Amtskollegen Andrés Manuel López Obrador in Tapachula im Süden von Chiapas, war die Grenzsicherung ein zentrales Thema: »Wir wollen eine Grenze, die uns eint«, erklärte Arévalo, »eine Grenze, die es uns ermöglicht, uns gemeinsam zu entwickeln und zu wachsen, zum gegenseitigen Nutzen, in Vertrauen, mit Begeisterung und Zusammenarbeit.« Was das bedeuten soll, präsentierte sein mexikanischer Amtskollege auf der gemeinsamen Pressekonferenz deutlich konkreter: »Wir werden den Tren Maya und den Interozeanischen Korridor nach Guatemala ausweiten.«

Dabei sind es ebenjene Megaprojekte, welche die Gewaltspirale in Südmexiko vorantreiben: Der »Maya-Zug« verbindet auf rund 1500 Kilometern die fünf südlichen Bundesstaaten miteinander (Chiapas, Tabasco, Campeche, Yucatán und Quintana Roo) und ist vor allem als touristisches Infrastrukturprojekt bekannt: Er soll die karibische Riviera Maya mit Maya-Stätten im Regenwald verbinden. Der Interozeanische Korridor ist ein weiteres Vorhaben, das die Landenge von Tehuantepec zu einer Handelsroute ausbauen und wirtschaftlich erschließen soll.

Im September 2024 verabschiedete sich López Obrador von der Morena-Partei mit der Einweihung weiterer Streckenabschnitte seines Prestigeprojekts in der Nähe von Felipe Carillo Puerto aus dem Amt. Begleitet von Gouverneuren, Militärs und Unternehmensvertretern bestieg er den Zug zu seiner ganz persönlichen Abschiedsfahrt. Vertreter*innen der Maya waren nicht dabei. Sie verlasen währenddessen in Carillo Puerto ihren eigenen Abschiedsbrief an den scheidenden Präsidenten: »Unsere Pueblos haben sich stets um die Natur in diesen Gebieten gekümmert: die Wälder, das Wasser, den Wind, das Meer. Diese Orte sind heilig. Die Regierung Obrador behauptet unter dem Narrativ des ›Fortschritts‹, dass sich nun eine Regierung endlich um den Südosten Mexikos ›gekümmert‹ habe, dass wir uns jetzt ›entwickeln‹ würden, dass wir mit dem Maya-Zug und dem Interozeanischen Korridor aus der Armut herauskommen würden. Aber wir protestieren, weil sie in Wahrheit leider ihre Augen darauf gerichtet haben, uns mit ihren Zügen, Gaspipelines, Hotels, Immobilienprojekten und Industrieparks auszuplündern und zu zerstören.«

Dies sind die Worte der Nachfahren jener Rebell*innen, die bereits vor mehr als einem Jahrhundert Widerstand gegen einen militarisierten Zug geleistet hatten: Im Kastenkrieg (1847–1901) erhoben sich die Maya der Yucatán-Halbinsel gegen ihre Versklavung auf Plantagen und erkämpften eine Autonomie, die so lange anhielt, dass jenes Gebiet, das heute als Quintana Roo mit der Touristenhochburg Cancún bekannt ist, erst 1974 in den mexikanischen Föderalstaat eingegliedert worden ist.

Als man 2024 das 120-jährige Bestehen des Bundesstaates feierte, stellten die noch heute rebellischen Maya eine Deklaration des vergessenen Völkermords von Quintana Roo vor. Ausführlich werden darin die Massaker an den Maya der Halbinsel dargestellt, die sich auch gegen ein Zugprojekt der Regierung von General Porfirio Dìaz wehrten: Zwischen 1896 und 1899 versuchten Unternehmer und die Regierung, eine Eisenbahnlinie durch die Hochburg der Aufständischen zu bauen. »Die Rodung des Dschungels für die Schienen sollte den Weg für das Militär frei machen«, heißt es in der Maya-Deklaration, »und der Zug selbst die Ressourcen der Region abtransportieren. Jetzt, mehr als ein Jahrhundert nach der porfirischen Eisenbahn, wird ein Zug gebaut, der ›Maya‹ genannt wird. (...) Ähnlich wie damals dient dieser Zug dem militärischen Vormarsch und der territorialen Neuordnung.«

Tatsächlich ist auch bei dem derzeitigen Großprojekt das Militär beteiligt: Die Armee baut, verwaltet und bezieht die Gewinne aus dem Betrieb der Trasse. Das, was die Aufständischen als »territoriale Neuordnung« bezeichnen, beschränkt sich nicht nur auf den Landraub, die Umweltzerstörung und die Vermarktung der Maya-Kultur durch den Massentourismus, den die neue mexikanische Präsidentin Claudia Sheinbaum zum Jahreswechsel 2024/2025 verteidigte: »Wir werden den Tren Maya zum großen Tourismusziel in der Welt machen Das Zugprojekt soll darüber hinaus die einst autonomen Maya-Territorien in den globalen Kapitalismus eingliedern, daran ließ Sheinbaum keinen Zweifel, als sie ankündigte, dass auch Güterzüge fahren würden. Für die indigenen Gemeinden klingt das wie eine Drohung.

»Wir werden den Tren Maya zum großen Tourismusziel in der Welt machen.«

Claudia Sheinbaum Präsidentin von Mexiko

Die Rebellenhauptstadt von einst, Noj Kaaj Santa Cruz Xbalam Naj, heißt heute Felipe Carillo Puerto. Der erste Militärzug wurde hier noch von Aufständischen aufgehalten. Doch dort, wo man noch heute seine rostenden Überreste sieht, scheint das neue Projekt der aktuellen mexikanischen Regierung zu triumphieren.

Der Zug selbst ist dabei nicht das alleinige Problem: Begleitet von neuen Autobahnen, Häfen und Flughäfen ist er angebunden an den Interozeanischen Korridor. Die Landenge ist die schmalste Stelle zwischen dem Golf von Mexiko und dem Pazifik. Auch dieser 216 Kilometer lange Korridor besteht aus Straßen und Zugstrecken, die wie ein trockener Panamakanal Waren zwischen den Ozeanen bewegen sollen – doch der Gütertransport ist nicht das einzige Vorhaben in dieser historisch umkämpften Landenge: Mindestens 14 Industrieparks, u.a. für die Automobil- und Textilproduktion, Raffinerien und Energieparks sollen errichtet oder ausgebaut werden, inmitten einiger der artenreichsten Wälder und Küstenregionen des amerikanischen Kontinents, die seit Jahrhunderten von Dutzenden indigenen Bevölkerungsgruppen bewahrt werden. Etwa von den Huave, die in den Lagunen vor Salina Cruz am Pazifik die »drei Meere« aus Süß-, Salz- und Mischwasser behutsam mit Wurfnetzen befangen. Der Hafenausbau für den Korridor zerstört ihre Lagune und damit die Lebensgrundlagen der Gemeinden. Knapp 300 Kilometer entfernt müssen die Maya zusehen, wie ihre heiligen Cenotes mit Beton aufgefüllt werden. Dabei ist das weltweit größte unterirdische Fluss- und Seensystem überlebenswichtig für den Regenwald im Landesinneren und die Mangroven an der Küste. Hier soll der Zug über Millionen Jahre alte Höhlen hinwegrollen.

Für Sheinbaum ist dieser Zug ein Symbol für eine »vierte Transformation«*. Unter diesem Label vermarktet die Regierung ihre Agenda. Tatsächlich wecken der Zug und der Korridor auch geopolitische Interessen: Die USA erhoffen sich von den militarisierten Zügen von Küste zu Küste eine neue Mauer gegen die Migration. Und Unternehmen aus aller Welt wollen vom Bau der Trasse und allem, was das Projekt mit sich bringt – Bergbau, industrielle Landwirtschaft bis hin zu Immobilienprojekten und Tourismuszentren – profitieren. Auch die Deutsche Bahn beteiligte sich bis 2024 trotz Kritik an dem Projekt, 2025 plant sie die Beteiligung an einem ähnlich kolonialen Vorhaben in Brasilien.

Doch nicht nur Großkonzerne wittern Gewinne durch die Erschließung des südlichen Mexikos: Auch für die kriminellen Kartelle sind die Häfen mit Direktverbindungen nach China und in die USA genauso interessant wie die Immobilienprojekte, Baustellen oder die Landwirtschaft. Und so dringen sie in Territorien ein, die sie lange verschont hatten. Die Gewalt im Süden Mexikos nimmt ihren Lauf, eine Verteidigung des kommunitären indigenen Landes in den südlichen Bundesstaaten wird für die Betroffenen immer gefährlicher. Immer wieder kommen Aufständische dabei ums Leben. Diejenigen, die sich weiterhin gegen die Megaprojekte von »Korridor und Tren« wehren, sprechen längst von einem »vierten Verrat«.

Was man der Bevölkerung 2018 im Süden Mexikos versprochen hatte (Informieren und Konsultieren der indigenen Gemeinden, das Schützen der empfindlichen Ökosysteme, Wohlstand und Arbeit) erreicht 2025 fast wortgleich den Norden Guatemalas. Die Ausweitung des Projekts nach Mittelamerika wird inzwischen konkret, ein Besuch Sheinbaums in den noch vom Massentourismus bislang verschonten Maya-Stätten von Mirador im guatemaltekischen Petén soll folgen.

Währenddessen warnt die revolutionäre indigene Bewegung der Zapatistas in Chiapas vor einem »Kollaps« des gesamten Territoriums und ruft für 2025 bereits zu »rebellischen Zusammentreffen« auf, um den »Tag danach« vorzubereiten.

* Der Begriff geht auf den Präsidenten López Obrador zurück. Als erste drei Transformationen bezeichnete er den Unabhängigkeitskrieg (1810–1821), den Bürgerkrieg (1858–1861) sowie die mexikanische Revolution (1910–1917).

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