Am Ende lacht die AfD

Hinter der Brandmauerfrage steckt eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera: schwarz-blaue Zusammenarbeit oder rechte Dauer-Erpressung

Die sogenannte Mitte ist tief zerrüttet – am Ende lacht die AfD.
Die sogenannte Mitte ist tief zerrüttet – am Ende lacht die AfD.

Einigen SPDlern liefen am Mittwochabend Tränen über die Wangen – nur noch ein Schnaps könne jetzt helfen, hieß es bei Grünen-Abgeordneten, die sich auf einem Balkon im Reichstag mit einer Zigarette trösteten. Wahrscheinlich wussten sie: An diesem Tag war nicht nur die Brandmauer gebrochen, sondern ihre Illusion der demokratischen Mitte. Zum ersten Mal hatte der Bundestag mit einer knappen Mehrheit einen Antrag verabschiedet, der nur mit Stimmen der AfD durchkommen konnte. Die CDU Abgeordneten zogen danach eine bedröppelte Miene – ob wirklich gemeint, ist schwer zu sagen. Freude zu zeigen, hätte ihnen in diesem Moment zumindest nicht gut gestanden. Jubel machte sich an diesem Abend nur bei der AfD breit. Zwar wird der Antrag selbst nichts bewirken, denn er ist nicht rechtlich bindend. Für die AfD geht es vielmehr um den Schritt an sich – ein Schritt, der gegangen werden musste, bevor sie Teil einer Regierung werden kann.

Jetzt sprechen alle vom Brandmauerbruch. Das ist auch nicht falsch, aber er ist nur Symptom, nicht Kern dessen, was am Mittwoch eigentlich passiert ist. Ja, durch das gemeinsame Votum mit der AfD hat die CDU ein bisheriges Kernprinzip der parlamentarischen Kultur aufgegeben – mit Ansage und in vollem Bewusstsein der Konsequenzen. Wenn CDU-Chef Friedrich Merz sagt, er habe bereut, dass es für die Mehrheit die AfD brauchte, kann man ihm das nicht abkaufen. Er wusste genau, dass Grüne und SPD seinem Fünf-Punkte-Plan nicht zustimmen konnten. Denn dieser überschritt sogar für diese beiden Parteien, die in den vergangenen Jahren in Sachen Migrationspolitik so viele Zugeständnisse nach rechts gemacht haben, eine rote Linie.

Auch wenn die CDU dem widerspricht – Rechtsexperten sind sich einig: Die im Fünf-Punkte-Plan enthaltene Forderung, dauerhafte Kontrollen an allen deutschen Außengrenzen einzuführen, widerspricht dem EU-Recht. Pauschale Zurückweisungen aller Menschen, die ohne Einreisegenehmigung nach Deutschland kommen wollen, ist ein Bruch mit dem Recht auf Asyl, das im Grundgesetz verankert ist.

Merz’ Brandmauerbruch ist Symptom einer viel wichtigeren Entwicklung in der deutschen Politlandschaft: Für rechte Forderungen, die sich über EU-Recht und Grundgesetz hinwegsetzen, gibt es in diesem Deutschen Bundestag schon eine knappe Mehrheit – und nach der Wahl Ende Februar kann es eine eindeutige Mehrheit geben, je nachdem, ob FDP und BSW in den Bundestag einziehen.

Dass sich CDU und AfD inhaltlich in entscheidenden Bereichen einig sind, insbesondere bei Migration und Sozialpolitik, war spätestens seit dem Berliner CDU-Parteitag im Frühling 2024 klar. Nicht nur einigte man sich dort auf migrations- und sozialpolitische Positionen, die von denen der AfD kaum unterscheidbar sind. Merz und seine Parteifreunde machten auch unmissverständlich klar, dass man von der liberalen Merkel-CDU nichts mehr wissen wolle. Diejenigen, die vom liberal-christlichen Flügel noch übrig sind, wie die Ministerpräsidenten Hendrik Wüst und Daniel Günther, wurden demonstrativ an den Rand geredet.

Die Beschlüsse

Der Bundestag hat am Mittwoch erstmals mit den Stimmen der AfD einen Antrag der CDU/CSU beschlossen. Darin wird die Bundesregierung unter anderem aufgefordert, dauerhafte Grenzkontrollen einzuführen. Alle Personen, die keine gültigen Einreisedokument haben, sollen an der Grenze zurückgewiesen werden. »Dies gilt unabhängig davon, ob sie ein Schutzgesuch äußern oder nicht«, heißt es in dem Antrag. Personen, die »vollziehbar ausreisepflichtig« sind, sollen inhaftiert werden. Für den Antrag stimmten CDU/CSU, FDP und AfD. Dagegen waren SPD, Grüne und Linke. Das BSW hat sich enthalten. Von der CDU votierte lediglich Antje Tillmann dagegen.

Das von der CDU/CSU eingebrachte »Zustrombegrenzungsgesetz« sieht vor, den Familiennachzug für Menschen mit subsidiären Schutz ganz zu unterbinden. Das Gesetz hat am späten Freitagnachmittag keine Mehrheit gefunden. Laut Auszählung gaben 692 Abgeordnete ihre Stimmen ab: 338 Ja-Stimmen, 349 Nein-Stimmen und 5 Enthaltungen. Dagegen stimmten SPD, Grüne und Linke, dafür CDU/CSU, FDP, AfD und BSW. Bei der FDP gab es zwei Nein-Stimmen. Insbesondere bei der CDU- und FDP-Fraktion beteiligten sich einige nicht an der Abstimmung.  rt

Mit den Abstimmungen von Mittwoch und Freitag hat sich eine Illusion als eine solche offenbart: die Illusion der stabilen demokratischen Mitte aus Grünen, SPD, FDP und CDU. Schon lange war sie nur noch ein künstliches Konstrukt, das durch das Brandmauer-Tabu am Leben erhalten wurde. Damit kommt eine Spaltung zum Vorschein, die die Politik in diesem Land künftig mehr prägen könnte als das Modell der großen demokratischen Mitte: Linke, Grüne und SPD stehen auf der einen Seite, auf der anderen steht die Mehrheit mit FDP, CDU, BSW und AfD.

Hinter der Brandmauerfrage steckt also eigentlich eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera, die Abstimmung über das Zustrombegrenzungsgesetz der CDU am Freitag hat dies im Kleinen auf den Punkt gebracht. Option A – Pest: Das Gesetz wird mit Stimmen von Union, FDP, AfD und BSW verabschiedet; die Brandmauer erleidet einen weiteren Bruch und die Rechte von Asylsuchenden werden entscheidend eingeschränkt. Das Gesetz sieht nämlich unter anderem vor etwa, dass das Recht auf Familiennachzug für Geflüchtete mit subsidiärem Schutz abgeschafft wird.

Option B – Cholera: Um die Brandmauer mit Ach und Krach wieder aufzurichten, hätten sich CDU, FDP, Grüne und SPD einigen können, das Zustrombegrenzungsgesetz in die Ausschüsse zurückzuüberweisen, damit dann in der letzten Sitzungswoche im Februar eine Mehrheit ohne die AfD gelingt. Dafür aber hätten Grüne und SPD eine ihrer letzten verbliebenen roten Linien in der Migrationspolitik aufgeben müssen. Das Angebot, das seitens der FDP auf dem Tisch lag: Grüne und SPD stimmen dem Zustrombegrenzungsgesetz zu, dafür stimmt die FDP im Gegenzug einem rot-grünen Gesetzesentwurf zur Gemeinsamen Europäischen Asylpolitik zu.

Am Ende wäre fast das Szenario A eingetreten. Grüne und SPD haben sich nicht auf das Angebot der FDP eingelassen, zum zweiten Mal innerhalb einer Woche haben CDU und FDP gemeinsam mit der AfD gestimmt – erst für einen Entschließungsantrag, dann für ein Gesetz. Nur für die Mehrheit hat es diesmal nicht ganz gereicht: Das »Zustrombegrenzungsgesetz« fiel am späten Freitagnachmittag in zweiter Lesung bei den Abgeordneten durch. Damit entfiel die dritte Lesung mit der Schlussabstimmung. 

Nach Angaben von Sitzungsleiterin Petra Pau (Linke) gaben 692 Abgeordnete ihre Stimmen ab: 338 Ja-Stimmen, 349 Nein-Stimmen und 5 Enthaltungen. Zuvor hatten neben Vertretern von CDU/CSU auch Abgeordnete der AfD, der FDP, des BSW und Fraktionslose Zustimmung signalisiert. SPD und Grüne hatten die Pläne heftig kritisiert.

SPD und Grüne sind dabei, und das muss betont werden, nicht weiter nach links gerückt. Sie haben sich lediglich dem Druck verwehrt, in ihren Migrationsforderungen noch weiter nach rechts zu rücken.

SPD und Grüne sind nicht weiter nach links gerückt, sie haben sich lediglich dem Druck verwehrt, noch weiter nach rechts zu rücken.

An der Annahme, eine Migrationsbegrenzung werde für mehr Sicherheit im Land sorgen, halten beide Parteien fest: »Wir müssen die Migration steuern, aber es muss grundgesetzkonform und EU-rechtskonform sein«, sagte Katja Mast, die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD, am Freitag. Auch Grünen-Kanzlerkanditat Robert Habeck betonte am Mittwoch, eine Vollstreckungsoffensive gegen Gefährder, die abgeschoben werden, würde das Land »sofort sicherer machen«.

Genau hier liegt die rot-grüne Mitschuld am Brandmauerbruch. Statt die CDU- und AfD-getriebene Debatte zu hinterfragen, die suggeriert, Migration sei das wichtigste Problem und Migrationsbegrenzung und Abschiebungen die wichtigsten Lösungen, haben Grüne und SPD die Debatte mitgeführt und so legitimiert.

Merz hatte nicht unrecht, als er am Freitag in Richtung Olaf Scholz fragte, warum der Kanzler nicht bei einem Gesetz zustimmen wolle, das die Befugnisse der Bundespolizei so ausweitet, dass mehr abgeschoben werden kann – ein weiterer Teil des Zustrombegrenzungsgesetzes. Schließlich prangte Scholz’ Gesicht vergangenes Jahr auf der »Spiegel«-Titelseite mit dem Zitat: »Wir müssen im großen Stile abschieben.«

Wenn jetzt von links gefordert wird, SPD und Grüne müssten nun konsequent sein und eine Koalition mit Merz ablehnen, stößt das bei vielen auf Irritation. Denn das würde bedeuten: Die CDU hätte nach der Wahl die Entscheidung zwischen Blau-Schwarz oder vier Jahren Minderheitsregierung. Die Wahrscheinlichkeit einer Koalition mit der AfD wird damit immens erhöht – und Merz wird sagen können: Ich hatte keine andere Wahl, das Volk hat mich beauftragt, eine handlungsfähige Regierung zu bilden, und dieser Verantwortung werde ich nachgehen. Das wäre die absolute Pest.

Cholera wäre – so argumentieren jene, die den Koalitionsausschluss fordern – wenn sich SPD und Grüne auf eine Regierung mit einer CDU einließen, die nicht nur die Brandmauer gebrochen hat, sondern auch auf ihren rechten Positionen beharren wird. Das hieße noch einmal vier Jahre lang: Die rechten Demokraten könnten SPD oder Grüne um ihre letzten »linken Positionen« bei Migration, Mieten, Sozial- und Klimapolitik erpressen.

Ob Pest oder Cholera: Am Ende lacht die AfD. Denn entweder sie darf mittel- oder langfristig mitregieren oder die Forderungen werden weiter bis in die sogenannte politische Mitte hinein normalisiert.

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