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»Sechs Richtige«: Werft das Geld weg!
Ein existenzialistischer Lottofilm von Romain Choay und Maxime Govare
Wer um Geld spielt, will gewinnen, sonst nichts. Aber wer mag schon Gewinner? Nicht einmal diese selbst mögen sich. Die Sympathien sind immer bei den Verlierern. Aber von Sympathien kann man sich nichts kaufen, und kaufen muss man um zu überleben. Also ist es der große Traum aller Verlierer, einmal zu den Gewinnern zu gehören. Bis sie es dann – zufällig – einmal sind.
Dann bricht der Gewinn wie eine Schicksalsmacht über sie herein – aber das erwartete große Glück bleibt aus. Im Gegenteil, nun lauern überall Gefahren, echte wie eingebildete. Das alte Leben voller Beschwernis und Unsicherheit, das einem doch irgendwie vertraut, vielleicht sogar lieb war, ist dahin. Statt Sympathie weckt man plötzlich Neid. Gewinner fühlen sich wie gejagtes Wild. Womit hat man das bloß verdient?
Eben, man hat gar nichts verdient, das ist das Problem beim plötzlichen Reichtum. So schnell er gekommen ist, kann er auch wieder verschwinden. Dostojewski etwa kam nur nach Baden-Baden, um im Casino zu spielen. Er verlor alles, aber konnte nicht aufhören weiterzuspielen, schließlich musste er das Verlorene zurückgewinnen. Bis er mehr verloren hatte, als er besaß, sogar die Kleider seiner Frau verspielte er und saß schließlich auf einem riesigen Berg von Schulden. Den musste der reumütige Schriftsteller dann versuchen irgendwie abzutragen – nun durch Übermaß an Arbeit. Was er schrieb und noch schreiben wollte, war alles schon von Gläubigern gepfändet. So wird man gewiss fleißig, aber nicht unbedingt glücklich.
Um Glücksspiel, das doch eher Unglücksspiel heißen sollte, geht es in »Sechs Richtige« von Romain Choay und Maxime Govare. Was früher das Casino war, ist heute die Börse. Man zockt und wehe dem, der am Anfang gewinnt – er wird jeden kommenden Verlust als vorübergehend abhaken und weiterspielen, bis zum bitteren Ende.
»Sechs Richtige« handelt vom Glücksspiel als Volkssport, auch Lotto genannt. Manche haben sogar ein Lotto-Abonnement, mit oder ohne System, und müssen nicht einmal mehr selbst die Zahlen ankreuzen. Eine Dokumentation darüber wäre schon aktionsgeladen genug, aber dies ist eine Komödie, wenn auch eine der besonderen Art. Sie ist auf grausame Weise pointiert darin zu zeigen, wie die Ironie des Weltgeistes ihren Lauf nimmt. Oder simpler gesagt, wie jeder Plan vom Glück sich schließlich in planloses Unglück verkehrt.
Die Hälfte aller Lottohauptgewinner, so las das Regieduo Govare & Choay, seien nach vier Jahren ruiniert. Der maßlose Gewinn als Auftakt einer unaufhaltsamen Selbstzerstörung? Alles Misstrauen ist plötzlich wie weggeblasen, arglos wird der Gewinn als Lösung aller Probleme bejubelt. Und damit gehen die Gewinner in die Falle, einer nach dem anderen. Das klingt nicht nur wie ein filmischer Kommentar zu Max Stirners wegweisendem Anarcho-Manifest »Der Einzige und sein Eigentum«, das ist ein hinreißender Beweis dessen Richtigkeit in Gestalt einer tiefschwarzen Komödie.
Ein halbes Dutzend bitterböser Geschichten kreisen in diesem Episodenfilm um den Lottogewinn und was er im Leben Einzelner anrichtet. Lustig ist das nur, wenn man über die absurde Verkehrung von Glück und Unglück zu lachen bereit ist. Mit anderen Worten: Wer den Schaden hat, bekommt auch hier den Spott gratis dazu.
Im Grunde folgt diese französische Produktion der angelsächsischen Auffassung von Komödie, die immer zugleich Tragödie ist. Jenen, die sich irrtümlich für Gewinner halten, drohen hier nicht bloß mehr oder weniger geringfügige Unannehmlichkeiten, sondern sogar der Verlust des eigenen Kopfes. Ist Grausamkeit komisch? Romain Choay nennt Quentin Tarantinos »Pulp Fiction« ein Vorbild für »Sechs Richtige«. Mehrere Geschichten werden um ein einziges Thema gruppiert.
So wird in einem halben Dutzend Episoden das vermeintliche Glück des Gewinnens auf seinen schnöden Kern gebracht: Gier nach Geld, manchmal auch nach Liebe. Ein Lottogewinn sei »wie ein Teilchenbeschleuniger«, erklären die beiden Regisseure – und setzen diesem Geschwindigkeitsansatz filmisch konsequent um.
Am Anfang sehen wir Paul (grandios als hoffnungsloser Verlierertyp: Fabrice Eboué) im Wagen mitsamt Ehefrau (vom Leben enttäuscht bis zur Apathie: Audrey Lamy) und den beiden halbwüchsigen Kindern auf dem Weg in die Ferien. Preisgünstig natürlich, auf Besuch zur Oma. Jede Form von Vorfreude liegt längst hinter ihnen.
Als sie unterwegs sein Handschuhfach aufräumt, fallen ihr ein paar alte Lotteriescheine in die Hand. Aus Langeweile vergleicht sie die Zahlen mit den Gewinnlisten in der Zeitung. Sie haben den Hauptgewinn – aber die Frist, ihn abzuholen, ist fast verstrichen. Fünf Millionen Euro – aber nur noch zehn Minuten Zeit, sich in einem Büro der Lotteriegesellschaft in Marseille zu melden. Jetzt wird der biedere, von Schulden und Verliererimage geplagte Familienvater zum Rambo am Steuer. Er schafft es pünktlich da zu sein – aber muss wegen schweren Rowdytums ins Gefängnis. Damit sind seine Prüfungen noch nicht am Ende.
Eine junge Frau, die von der großen Liebe träumt, hat Glück im Spiel – was sie misstrauisch hätte stimmen sollen – und gewinnt im Lotto zehn Millionen Euro. Und plötzlich ist da ein gut aussehender junger Mann, der sich in sie verliebt. In sie oder bloß in ihr Geld? Da ist der Selbstmordattentäter in der Pariser Metro, der, kurz bevor er die Bombe zündet, bemerkt, dass er vierzig Millionen im Lotto gewonnen hat. Oder die Pfleger im Altenheim, in dem Lottospieler Henri gerade erfährt, dass er sechzig Millionen Euro gewonnen hat – und einen tödlichen Herzinfarkt erleidet. Das Pflegekollektiv nimmt sich nun des Lottoscheins an. Genug für alle, um sorgenfrei im erschlichenen Wohlstand zu leben? Nein, es scheint, dass ein Fluch auf dem Gewinn liegt – oder ist es bloße Hysterie?
Sie eilen von Katastrophe zu Katastrophe, nichts bleibt von all den Glücksversprechen. »Sechs Richtige« erlangte in Frankreich bereits Kultstatus als ein furioses Statement gegen den Tanz ums Goldene Kalb. Werft das Geld weg, bevor es euch zerstört!
Kein Zufall, dass nur Paul, der notorische Verlierer, am Ende doch noch Glück hat. Wenn auch in einer sehr minimalistischen Variante. Oder ist es etwa nichts, wenn man in seinem Unglück nicht allein bleibt?
»Sechs Richtige. Glück ist nichts für Anfänger«, Regie und Buch: Romain Choay und Maxime Govare. Mit Fabrice Eboué, Audrey Lamy, Anouk Grinberg u.a., Frankreich 2024, 103 Min., bereits angelaufen
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