KZ Mauthausen: Offizielles Gedenken unerwünscht

Verband erinnert in Mauthausen an Hetzjagd auf geflohene sowjetische Gefangene vor 80 Jahren

  • Dieter Reinisch, Mauthausen
  • Lesedauer: 4 Min.
Angehörige sowjetischer und österreichischer Häftlinge am Sonntag am sowjetischen Mahnmal in Mauthausen
Angehörige sowjetischer und österreichischer Häftlinge am Sonntag am sowjetischen Mahnmal in Mauthausen

Mit einer roten Nelke in der Hand tritt Olga Stachurskaja durch den kleinen Eingang in der Steinmauer: »Ich hatte mich vor dem Moment gefürchtet. Ich wusste nicht, wie es werden wird, wie ich mich fühlen werde«, erzählt die ältere Dame. Als erste ihrer Familie ist sie aus Russland nach Österreich gereist, um das frühere Konzentrationslager Mauthausen zu besuchen. Seit Tagen nimmt sie Beruhigungsmittel. Als sie am Sonntag mit Jelena Chalewinskaja vor der Steintafel steht, die in einem kleinen Hof am äußersten Rand der KZ-Gedenkstätte angebracht ist, kommen ihr die Tränen. Stachurskaja und Chalewinskaja stecken ihre Nelken still an die Tafel, auf der in großen Buchstaben eingraviert steht: Block 20.

Stachurskajas Großvater Tichon Negirisch war als sowjetischer Kriegsgefangener in Mauthausen. In der Nacht zum 2. Februar 1945 war er einer von fast 500 sowjetischen Soldaten und Offizieren, die einen Ausbruchsversuch aus jenem Block 20 unternahmen. Mit dabei war wahrscheinlich auch Anatoli Koblikow, der Bruder von Jelena Chalewinskaja. Ganz genau weiß es niemand, obwohl Historiker seit Jahrzehnten versuchen, die Ereignisse und die einzelnen Schicksale zu rekonstruieren.

Geheimbefehl zur Erschießung von Gefangenen

Denn die Gefangenen in Block 20 wurden nie registriert, weil von ihnen niemand wissen sollte. Sie wurden ab dem 4. März 1944 aufgrund des sogenannten Kugel-Erlasses nach Mauthausen deportiert. Es war ein Geheimbefehl, dem zufolge aus deutschen Kriegsgefangenenlagern Entwichene nach ihrer Ergreifung nach Mauthausen überführt und dort erschossen werden sollten. Für britische und US-amerikanische Gefangene galt der Befehl nicht.

Ausgestellt war der Befehl von der Außenstelle Aachen der Gestapo in Köln. Darin wird auf drei Seiten detailliert beschrieben, dass niemand diese Gefangenen zu Gesicht bekommen dürfe. Von der Existenz des Befehls dürfe auch die lokale Polizei nicht informiert werden.

Selbst Mithäftlinge wussten nichts vom Schicksal der sowjetischen Soldaten

Selbst die Mithäftlinge in Mauthausen wussten nicht, was im Block 20 passierte. Die Häftlinge, insgesamt bis zu 5000, wurden nahezu ohne Nahrung dem Hungertod überlassen, sofern sie nicht bereits bei der Ankunft ermordet wurden. Sie mussten Sportübungen absolvieren, bei denen täglich Dutzende tot zusammenbrachen, berichtet die Russisch-Dolmetscherin der Gedenkstätte. Insgesamt waren 30 000 der 120 000 Menschen, die in Mauthausen ermordet wurden, Bürger der Sowjetunion.

Bewaffnet mit Pflastersteinen, zwei Feuerlöschern, Seifen- und Kohlestücken griffen die Männer am 2. Februar die Wachtürme an und warfen feuchte Decken über den elektrisch geladenen Stacheldraht. Der dadurch herbeigeführte Kurzschluss ermöglichte es ihnen, die Lagermauer zu überwinden. Viele starben bereits beim Ausbruchsversuch, doch 419 Personen gelang die Flucht. Vermutlich 68 im Block 20 verbliebene Schwerkranke wurden noch in der Nacht von den KZ-Wärtern erschossen.

SS machte Jagd auf die Geflüchteten

Die anderen machten sich mit Holzschuhen und kaum Kleidung durch den Schnee auf in die bitterkalte Nacht. Stachurskaja steht allein in der Mitte des Hofes, wo einst der Barrackeneingang war und blickt lange auf die KZ-Mauer über die wohl auch ihr Großvater geflüchtet ist.

Es war keine Flucht in die Freiheit, sondern eine Flucht aus dem Todestrakt in den Tod: Die SS leitete eine Großfahndung ein, an der sich neben Gendarmerie, Wehrmacht und Volkssturm auch zahlreiche Zivilpersonen aus dem lokalen Umfeld beteiligten. Fast alle Geflüchteten wurden wieder ergriffen und an Ort und Stelle ermordet. Die Such- und Mordaktion wurde nach der Region nördlich der Donau zynisch als »Mühlviertler Hasenjagd« bezeichnet.

Bauern verstecken Überlebende

Nur elf Gefangene überlebten, da einige Bauern sie unter Einsatz ihres eigenen Lebens aufnahmen und bis zum Kriegsende drei Monate später versteckten. Unter den Helfenden war die Familie Langthaler aus Schwertberg. Anna Hackl erlebte die Ereignisse als 13-Jährige mit. Die heute 93-Jährige traf Frauen aus Russland am Sonntagnachmittag am Gedenkstein im benachbarten Ried.

Zurück im KZ Mauthausen stellt Jelena Calewinskaja ein Porträt ins Krematorium, nur zwei Meter gegenüber dem Verbrennungsofen. »Es war ein unfassbar emotionaler Tag«, sagt sie auf der Rückfahrt nach Wien. »Koblikow trug den Titel ›Held der Sowjetunion‹. Mein Großvater arbeitete in der Luftwaffe und kämpfte im Zweiten Weltkrieg. Für mich ist er ein Held.«

Offizielle Vertreter Österreichs fehlen beim Gedenken

Zu Ehren der Ermordeten kamen auch Angehörige anderer Opfer zur Gedenkfeierlichkeit des KZ-Verbands Oberösterreich. So die Familie von Sepp Teufl, einem Mitglied des Zentralkomitees der KPÖ, der in Mauthausen ermordet wurde; Peter Müller, Sohn des Spanienkämpfers und Rotarmisten Hugo Müller. Auch der russische Kulturattaché Stanislaw Smirnow war angereist.

Nicht gekommen waren Vertreter des offiziellen Österreich. Gemeinsam mit den russischen Nachkommen der Opfer und Befreier vom Faschismus oder gar mit Diplomaten Russlands will sich niemand von der Regierung unter Führung der extrem rechten FPÖ zeigen. »Wir wurden bereits informiert, dass wir auch dieses Jahr von den Feierlichkeiten zur Befreiung des KZ im Mai ausgeladen sind«, sagt Lew Terechow, Sprecher der russischen Botschaft in Österreich, zu »nd«.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -