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Die neue konservative Skrupellosigkeit des Friedrich Merz
Der Kanzlerkandidat der Union will machtpolitische Beinfreiheit für ein marktradikales, autoritäres Krisenregime wie das von Donald Trump
Dass diese oder jene politische Entscheidung historisch sei, hört man in letzter Zeit öfter. Nicht immer trifft die Kategorie. Aber es gibt keinen Begriff, der besser fasst, was letzte Woche im Bundestag passiert ist. Leider, muss man sagen. Denn die Tragweite dessen, was der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, getan hat, ist tatsächlich genau das: historisch. Sein Manöver hat mehr als nur tagespolitische Relevanz. Es ist von geschichtlicher Bedeutung.
Das Vorgehen von Merz ist so offensichtlich wie skandalös: Die Union hat für ihre Anträge und ein Gesetz keine demokratische Mehrheit zusammen bekommen und daher gleich zweimal eine Mehrheit mit den Faschisten billigend in Kauf genommen. So hat der Kanzlerkandidat der Union mit Absicht, gegen seine Versprechen und ohne Not den Nachkriegskonsens aufgekündigt, nicht mit der extremen Rechten Mehrheiten im Parlament zu bilden. Merz hat zudem explizit angekündigt, dass er es wieder tun wird, wenn »die Sache« es erfordert. Genau dieses Notstandsargument kann er auch in der nächsten Bundesregierung rausholen, wenn es ihm passt. Die Erpressung der demokratischen Parteien durch ein Zusammenwirken mit der AfD ist damit als vermeintlich legitimes Instrument der politischen Auseinandersetzung normalisiert. Das ist ein Bruch in der politischen Kultur der Bundesrepublik. Damit hat die Union die Brandmauer eingerissen.
Dass Merz mit dem »Zustrombegrenzungsgesetz« im Bundestag am Freitag auf den letzten Metern doch noch gescheitert ist, ändert daran nichts. Es zeigt nur, dass der öffentliche Druck offensichtlich dieses Mal noch stark genug waren, um genug Abgeordnete von Union und FDP von einer Zustimmung abzuhalten. Denn Merz kann trotz des Jubels bei der AfD über das Vorgehen der Union weiterhin keinen Fehler bei sich erkennen. Im Gegenteil: Das erstmalige Zusammenwirken mit der extremen Rechten im Bundestag verklärt er zum Beispiel als Zeichen einer funktionierenden Demokratie.
Dieses Desaster ist kein Betriebsunfall, auch wenn die Egozentrik von Merz sicherlich ihren Teil dazu beigetragen hat. Denn bei genauerer Betrachtung wird hinter einer kurzsichtigen Wahlkampftaktik etwas Anderes, Grundlegenderes sichtbar. Vordergründig ging es um die populistische Symbolik einer deutschen Trump-Show. Deren flache Logik: »all in« gehen, also alles auf eine Karte setzen, und Tatkraft simulieren, indem man versucht, fachlich sinnfreie Entschließungsanträge und ein mindestens in Teilen rechtswidriges Gesetz noch kurz vor der Wahl durch das Parlament zu peitschen. Dahinter steht die Freude über eine neue konservative Skrupellosigkeit. Das Ziel: eine machtpolitische Beinfreiheit, die es für ein marktradikales und autoritäres Krisenregime, wie es in den USA bereits an der Regierung ist, in Deutschland bisher nicht gab. Offenbar fühlt sich ein großer Teil des deutschen Bürgertums angesichts der Krisen von Menschenrecht wie von EU-Recht gefesselt.
Deswegen wird das Vorgehen der Union im Bundestag Nachahmer in den Ländern produzieren. In den ostdeutschen Landesverbänden der CDU und auf kommunaler Ebene gibt es längst entsprechende Lockerungsübungen für eine Zusammenarbeit mit der AfD. Schon im Oktober forderten nach den Landtagswahlen in Sachsen sechs ehemalige CDU-Politiker, darunter frühere Minister und Landräte, in einem offenen Brief an ihre Parteispitze Gespräche mit der AfD. Eben dort stimmte die CDU-Fraktion nun im Januar für die Wahl eines AfD-Abgeordneten in die Parlamentarische Kontrollkommission, die den Verfassungsschutz überwacht. Sie rechtfertigte dieses Vorgehen mit dem Argument, dass die AfD eine gewählte Partei sei und das Parlament den Wählerwillen widerspiegeln müsse. Solche Fälle werden nun massiv zu nehmen.
Das zeigt: Merz ist nicht zuletzt all jenen auch christdemokratischen Bürgerinnen und Bürgern in den Rücken gefallen, die die Brandmauer nach rechts außen bisher mit hohem persönlichen Einsatz vor Ort verteidigt haben. Sie stehen jetzt auf verlorenem Posten.
Wie man es also dreht und wendet: In Rekordzeit hat Merz ein politisches Desaster angerichtet. Diese Diagnose ist leider keine Geschmacksfrage. Denn der gerade nach mehr als vier Jahrzehnten aus der CDU ausgetretene Publizist Michel Friedman hat völlig recht: Unsere Demokratie wird aktuell massiv durch autoritäre Kräfte von außen und innen angegriffen – außen Trump und Putin, innen Weidel und Höcke. Da ist es tatsächlich unverzeihlich, als konservative Volkspartei das trojanische Pferd für die extreme Rechte im öffentlichen Diskurs zu spielen. Ähnliches gilt für das »linkskonservative« BSW, das mit seiner Unterstützung einer Mehrheit mit der AfD nun endgültig im rechten Lager angekommen ist. Statt, wie von manchen Linken erhofft, wenigstens die extreme Rechte zu schwächen, streut Wagenknecht ihnen Rosen auf den Weg und verhilft ihnen machtpolitisch zum Durchbruch. Ein so vorhersehbares wie erbärmliches Ende.
Was bleibt zu tun? »When they go low, we go high« – dieser oft Michelle Obama zugeschriebene Anspruch, sich nicht auf das Niveau seiner Gegner herabzulassen, sollten wir richtig verstehen. Denn dieser Anspruch erinnert Progressive und Linke nicht nur (zu recht) daran, dass selbst der Kampf für die gute Sache nicht alle Mittel heiligt und selbst der Zorn über das Unrecht die Stimme heiser machen kann, wie Bertolt Brecht schrieb. Es erinnert auch daran, nicht die eigenen Prinzipien in den Staub zu treten, dem Rechtsruck der medialen Debatte nicht immer weiter hinterherzulaufen. Mit anderen Worten: Alle Progressiven sollten sich daran erinnern, richtige Ansprüche auch unter Druck aufrechtzuerhalten und aus historischen Ereignissen praktische Konsequenzen zu ziehen. Jetzt kann das nur heißen, auf dem eigentlich Selbstverständlichen zu bestehen: der Absage an jede Annäherung an die extreme Rechte und damit an den Kurs der aktuellen Unionsführung.
Jan Schlemermeyer ist Mitglied im Vorstand des Instituts solidarische Moderne (ISM) und arbeitet bei der Linkspartei.
Das gilt inhaltlich: Es ist fatal, wenn nun insbesondere von SPD-Bundeskanzler Scholz so getan wird, als wäre an der bösartigen Gleichung von Merz (»Mehr Einwanderung gleich mehr Gewaltkriminalität gegen Kinder«) etwas dran. Abschottung ist schlicht keine sinnvolle Alternative zu massiven Investitionen in eine demokratische Einwanderungsgesellschaft. Für diese Einsicht muss man angesichts der wirtschaftlichen Notwendigkeit von Einwanderung und der Tatsache, dass unser Gesundheitssystem ohne Migration sofort zusammenbrechen würde, nicht links sein. Der Präsident des Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, hat es auf den Punkt gebracht: »Grenzschließungen, Kürzungen von Leistungen und Stigmatisierung schaffen nicht mehr, sondern weniger Sicherheit und erschweren die Integration. Und sie verursachen langfristig deutlich höhere Kosten.«
Die realen Probleme brauchen reale Lösungen. Statt demagogisch eine Flüchtlingskrise zu beschwören, müsste zum Beispiel im Hinblick auf psychische Kranke endlich die Gesundheitskrise angegangen werden, die nicht erst seit Corona bekannt ist. Dagegen immer weiter die Abschottungsforderungen der extremen Rechten zu übernehmen, besänftigt diese nicht, sondern stachelt sie an. Die zahlreichen Verschärfungen des Asylrechts seitens der Ampel-Parteien haben nicht nur das Leben vieler Menschen schwerer gemacht. Sie haben auch systematisch von den sozialen Alltagssorgen vieler Menschen im Hinblick auf die explodierenden Mieten und die gestiegenen Preise abgelenkt – und die Umfragewerte der AfD seit 2021 verdoppelt. Die inhaltliche Übernahme rechter Positionen muss aufhören.
Konsequenzen sind aber auch machtpolitisch geboten. In diesem Fall heißt das: SPD und Grüne sollten klar ausschließen, Merz nach dem 23. Februar zum Bundeskanzler zu wählen. Es ist unverständlich, dass relevante Teile der Grünen – gegen die Forderung ihrer Jugendorganisation und der Linkspartei – sofort versichern, dass sie trotz allem Merz zum Kanzler wählen würden. Denn man braucht doch keine Angst haben, die Union so in die Arme der AfD zu treiben. Die Drohung mit entsprechenden Mehrheiten hat Merz bereits auf den Tisch gelegt. Solange er sie nicht wieder herunternimmt oder die Union sich eine neue Führung gibt, bedeutet jedes machtpolitisches Zugeständnis an Merz faktisch die Kapitulation vor seiner Erpressung. Einen erklärten Steigbügelhalter der extremen Rechten sollte kein Demokrat zum Kanzler wählen – noch nicht mal mit den inzwischen obligatorischen Bauschmerzen. So jemandem reicht man selbst aus Höflichkeit nicht mehr die Hand. So jemandem wirft man höchstens einen Blumenstrauß vor die Füße.
Was wäre die Alternative? Wenn Sozialdemokraten und Grüne Merz sein Manöver nach etwas Theaterdonner durchgehen lassen, wäre das fatal. Würden sie sich am Ende doch noch einkaufen lassen, käme die Demokratie in der Bundesrepublik wahrscheinlich wirklich ins Rutschen. Es braucht etwas Anderes: Die klare Festlegung, einen Kandidaten, der die Brandmauer eingerissen hat und danach stolz erklärt, er würde »alles noch mal genau so machen«, nicht zum Kanzler zu wählen. Das wäre etwas, das die Verhältnisse im positiven Sinne in Bewegung bringen kann. Natürlich wird die Union ihren Spitzenkandidaten nicht vor der Wahl auswechseln, aber danach kommt es auf das Ergebnis und schon jetzt auf die Mobilisierung der Zivilgesellschaft an.
Es gibt in relevanten Teilen der Union – die Kritik von Altbundeskanzlerin Angela Merkel hat es gezeigt – hinter aller Wahlkampfeinigkeit ein bleibendes Entsetzen über das Manöver von Merz. Die riesigen Demonstrationen gegen rechts haben zudem bundesweit gezeigt, dass auch gesellschaftlich nun einiges in Bewegung ist. Für all diese Kräfte wäre das Signal wichtig, dass historische Fehler mitunter wirklich Konsequenzen haben.
Außerdem könnte es den Horizont für einen echten, sozial-ökologischen Politikwechsel im Bund wieder öffnen. Das ist für die Demokratie existenziell – wie auch immer so ein Politikwechsel dann konkret durchgesetzt wird. Denn wenn die Krisen jetzt nur weiter verwaltet werden, bleibt spätestens 2029 wahrscheinlich wirklich nur noch die Wahl zwischen einer schwarz-blauen Machtoption und der Übernahme der AfD-Forderungen durch die Mitte. Gibt es dagegen eine progressive Perspektive für einen sozialen Aufbruch hier und in der EU, dann eröffnet das die Chance darauf, dass am Ende nicht so oder so die AfD lacht.
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