Armut (k)ein Thema im Wahlkampf

Das Nach-außen-Treten hat das Nach-unten-Treten ersetzt, kommentiert Olivier David

Kleiderspendenaktion auf der Reeperbahn in Hamburg.
Kleiderspendenaktion auf der Reeperbahn in Hamburg.

Haben Sie in diesem Wahlkampf zur Bundestagswahl von Politiker*innen der ersten Garde das Wort Armut vernommen? Nein? Ich ebenfalls nicht. Die Erfahrung sagt mir, dass es etwas Gutes ist: Soweit sind wir schon gekommen, dass man hofft, die Personengruppe, der man seine Aufmerksamkeit schenkt, möge nicht vorkommen, einfach weil es derzeit ausgeschlossen ist, dass Politik für Armutsbetroffene gemacht wird, statt nur immer wieder gegen sie. Wenn Armut von den bürgerlichen Parteien im Kampf um die Stimmen aufgenommen wird, dann nur als Negativfolie, nach dem Motto: »Es den Hartzern mal so richtig zeigen«.

Andererseits bin ich vielleicht gerade auf einen Trick hereingefallen. Der Trick geht folgendermaßen: Es wird über eine Personengruppe gesprochen, von der mehr als jeder dritte Angehörige dieser Gruppe in Armut lebt. Aber es geht nicht vordergründig um Armut, haha! Nein, stattdessen geht es um Migrant*innen – und warum sie aus Sicht der Politiker*innen ein Problem darstellen. Die Politiker*innen bürgerlicher Parteien wissen natürlich, dass sie nicht knapp 14 Millionen Menschen abschieben können. So groß ist die Gruppe derjenigen ohne deutschen Pass. Das hätte dann zu sehr ein Geschmäckle von 1933.

Olivier David

Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse.

Aber schlecht soll es ihnen schon gehen, also treten sie runter. Menschen aus dieser Personengruppe, die psychische Erkrankungen haben und Straftaten begehen, sind dann keine psychisch kranken Menschen, die durchs System gefallen sind, und die ein Anrecht auf Hilfe haben. Sie sind Ausländer. Kriminelle Ausländer. Weg damit. Soweit sind wir gekommen.

Der Trick dabei ist: Kulturelle Marker ersetzen soziale Marker – das Ziel bleibt dasselbe. Es braucht in diesem Land, zu dieser Zeit, mit dieser Art zu wirtschaften immer genügend Menschen, die unten stehen. Und weil wir in einer inhärent rassistischen Gesellschaft leben, die ihre historischen Verbrechen nicht ernstlich aufgearbeitet hat, funktioniert der Trick, Migration als Problem zu benennen, während es eigentlich um die Aufrechterhaltung einer Unterklasse geht.

Es geht darum, dass immer genug Menschen arm und entrechtet zu sein haben. Deshalb drangsalieren Politiker*innen Geflüchtete mit Bezahlkarten und Arbeitsverboten, mit Residenzpflicht und der Drohkulisse möglicher Abschiebungen. Aus »Es den Hartzern mal so richtig zu zeigen« ist ein »Es den Migrant*innen mal so richtig zu zeigen« geworden. Mal wieder. Und auf der anderen Seite nur die Linke, von der man hofft, sie möge es über die Fünfprozenthürde schaffen, damit es wenigstens irgendjemand im Bundestag ernst nimmt.

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Da sind wir also und wir sind noch keinen Meter nach vorn gekommen: Zu hoffen, dass Armut kein Thema sein wird. Ich glaube, ich weiß schon, wie es weiter geht. Prognose 1: Der Migrationsdebatte geht noch vor der Bundestagswahl die Luft aus. Unwahrscheinlich, aber möglich. In dem Fall müssen sich Menschen, die kein Geld haben, in Acht nehmen. Prognose 2: Es wird munter weiter gehetzt. Die Sanktionierung und Bekämpfung von Menschen, die in Armut leben, kommt anschließend in der schwarz-grünen oder wahlweise schwarz-roten Koalition: Sanktionen hoch, Bürgergeld runter. Man kennt es.

Wie wäre es, stattdessen in einer Gesellschaft zu leben, in der Politik für alle gemacht wird? In der der Fokus besonders auf denjenigen liegt, die Unterstützung benötigen? An dieser Stelle keine Antworten, nur Fragen.

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