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Ukraine: Es riecht nach Veränderung
Die neue US-Regierung könnte die Ukraine zu überfälligen Präsidentschaftswahlen drängen
Der für Mitte Februar geplante Kiew-Besuch des ehemaligen Generalleutnants und Sondergesandten von Präsident Trump für die Ukraine und Russland, Keith Kellogg, dürfte bei der ukrainischen Machtelite gemischte Gefühle hervorrufen.
Auf der einen Seite sind gute Beziehungen zum US-amerikanischen Partner für die Ukraine von existenzieller Bedeutung. Auf der anderen Seite gibt es in wichtigen Fragen unterschiedliche Sichtweisen. So hat Präsident Wolodymyr Selenskyj Kelloggs Forderung nach Präsidentschaftswahlen noch in diesem Jahr zurückgewiesen. Sie wurde übrigens zeitgleich auch von Wladimir Putins Sprecher Dmitri Peskow erhoben.
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US-Gesandter Kellogg will Präsidentschaftswahlen
Die in Brüssel erscheinende Plattform »Politico« zitiert Kellogg mit den Worten: »In den meisten Demokratien finden Wahlen sogar während eines Krieges statt. Ich denke, das ist wichtig. Ich glaube, es ist gut für die Demokratie. Die Schönheit einer starken Demokratie ist es, mehr als einen potenziellen Kandidaten zu haben.«
Das Portal zitiert einen namentlich nicht genannten ehemaligen ukrainischen Minister mit den Worten: »Die weitgehende Übereinstimmung der Sichtweisen zu Wahlen zwischen Washington und Moskau ist besorgniserregend.« Dies sei ein erster Beweis, dass sich Trump und Putin einig seien, dass sie Selenskyj nicht mehr in seinem Amt haben wollen.
Spannungen zwischen Selenskyj und Kontrahenten nehmen zu
Im Team von Selenskyj scheint man sich auf seine Weise auf mögliche Wahlen vorzubereiten. Und so dürfte es auch kein Zufall sein, dass ausgerechnet jetzt die Spannungen zwischen Selenskyjs Team und seinen populärsten Widersachern, dem Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko und Ex-Präsident Petro Poroschenko, zunehmen.
So hat der für die Geschäftsordnung zuständige Ausschuss im ukrainischen Parlament einen Entschluss gefasst, das Plenum des Parlamentes zu bitten, Ex-Präsident Poroschenko vorerst kein Rederecht zu erteilen. Dieser habe bei einer letzten Rede einen politischen Gegner mit sehr vulgärer Sprache beleidigt. Unklar ist allerdings noch, für welchen Zeitraum man Poroschenko das Rederecht entziehen will und wann das Parlament darüber abstimmen soll.
Poroschenko soll kaltgestellt werden
Einfach wird diese Abstimmung nicht werden. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Regierungspartei Diener des Volkes, die 2019 254 von 424 Sitzen im Parlament und damit die absolute Mehrheit erobert hatte, ihre eigenen Anträge durchbringen konnte. Nun sind die Diener des Volkes ausgerechnet auf die Stimmen der Abgeordneten des inzwischen aufgelösten, gleichwohl immer noch verhassten Oppositionsblocks angewiesen.
Auch Poroschenkos Sohn wird in diese Auseinandersetzung gezogen. Am 28. Januar verurteilte ein Kiewer Gericht Olexij Poroschenko zu einer Geldstrafe von umgerechnet 1200 Euro. Poroschenko junior, der seit 2019 im Ausland lebt, wird vorgeworfen, einer Ladung der Einberufungsbehörde TZK nicht gefolgt zu sein.
Klitschko klagt offen über Selenskyjs vorgehen
Vergangene Woche hatte sich der gewählte Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, in einem offenen Schreiben an Präsident Selenskyj über die von diesem eingesetzte Militäradministration Kiews beschwert. »Die Militäradministration ist ein vorübergehend eingerichtetes Organ, das zuständig ist für Verteidigung und Sicherheit. Die Usurpation der Macht gehört nicht zu den Aufgaben dieses Organs«, so Klitschko.
Laut dem Kiewer Bürgermeister blockiert der neue Leiter der Militäradministration von Kiew, Timur Tkatschenko, die Lösung von entscheidenden städtischen Problemen.
Festnahme beliebter Offiziere sorgt für Kritik
Tkatschenko, so der Vorwurf Klitschkos, versuche, die Befugnisse des Bürgermeisters, des Stadtrats und der Stadtverwaltung zu übernehmen und damit das Gesetz zu brechen. »Ich erinnere daran, dass die Militärverwaltung eine temporäre Institution ist, die sich mit Verteidigung und Sicherheit befassen sollte. Eine Übernahme der Macht gehört nicht zu ihren Aufgaben. Die Kiewer haben ihren Bürgermeister gewählt, und ich werde weiterhin ihre Interessen verteidigen«, erklärte Klitschko.
Seit Tagen hält ein weiterer Konflikt zwischen Staat und Militär die Ukrainer in Atem. Ende Januar wurden Brigadegeneral Juri Galuschkin, Generalleutnant Artur Gorbenko und Oberst Ilja Lapin verhaftet. Ihnen wird vorgeworfen, durch ihre Inaktivität 2024 zur Eroberung eines Teils der Region Charkiw beigetragen zu haben. Die Anklage ist äußerst umstritten, die Offiziere bestreiten jede Schuld. Soldaten, Journalisten, Experten und Politiker haben bereits für die Angeklagten Partei ergriffen. Schließlich gebe es im Krieg nun mal nicht immer nur Erfolge und Siege.
Zwischenfälle bei der Mobilisierung häufen sich
Zudem zeigt sich immer mehr, dass die Mobilisierung nicht wie von Selenskyj vorgegeben verläuft, was zu einem immer brutaleren Vorgehen der Rekrutierungsbehörde TZK führt. In der Bevölkerung, in sozialen Netzwerken und teilweise auch in Leitmedien wird die Wut darüber lauter. So machte dieser Tage ein Video die Runde, das eine Zwangsrekrutierung eines evangelischen Christen zeigt, der gerade einen Gottesdienst in der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Odessa besuchen wollte. Kirchgänger hatten am Eingang zum Gelände der Kirche vergeblich versucht, den Gläubigen zu schützen.
In der vergangenen Woche kamen zwei Mitarbeiter der TZK bei Anschlägen ums Leben. In Piryatyn, einer Stadt in der Region Poltawa, wurde ein Mitarbeiter des Rekrutierungsbüros erschossen, als er frisch mobilisierte Soldaten zu einer Militäreinheit fahren wollte. Bei einer Explosion im TZK der Stadt Riwne wurde am Samstagnachmittag eine Person getötet, sechs weitere wurden verletzt, berichtet Interfax-Ukraine unter Berufung auf die Polizei.
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