Vorwärts in die Vergangenheit

Was aus Deutschland nach dem »Politikwechsel« der Union würde. Ein Gastbeitrag

  • Christoph Butterwegge
  • Lesedauer: 4 Min.
Wahlkampf: CDU-Pläne – Vorwärts in die Vergangenheit

Im Bundestagswahlkampf klammern die meisten Parteien die soziale Frage bisher weitgehend aus. Die anhaltende Wohnungs- und Obdachlosigkeit, die steigende Arbeitslosigkeit, der breite Niedriglohnsektor, die allmählich bis zur Mitte der Gesellschaft vordringende Verarmung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, die gesundheitliche und Bildungsbenachteiligung von Unterprivilegierten sowie der Pflegenotstand spielen kaum eine Rolle. Wegen der politischen Instrumentalisierung von Gewalttaten teils psychisch kranker Fluchtmigranten durch CDU, CSU und AfD findet eine monothematische Verengung auf die Abwehr von Asylsuchenden statt.

Unionspolitiker als Scharfmacher

Wie die Historie zeigt, sind – neben den politischen Rechtsaußen – insbesondere nationalkonservative, neoliberale und nationalliberale Kreise, die als Steigbügelhalter fungieren und Rechtsextremen bewusst oder ungewollt zur Macht verhelfen, das eigentliche Problem. Diesmal kann aber niemand mehr sagen, er habe nicht gewusst, wohin das führt.

Bereits im ersten Kapitel ihres Wahlprogramms beschwören CDU und CSU unter dem Titel »Für ein Deutschland, auf das wir wieder stolz sein können« den Nationalstolz. Dass die Unionsparteien versprechen, »Deutschland wieder nach vorne« zu bringen, erinnert fatal an »Make America Great Again!«. Ebenso wie die Aussage ihres stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Jens Spahn »Ich stelle die deutschen Interessen in den Mittelpunkt« am 23. Januar bei »Maybrit Illner« sehr nah dran ist an »America First!«. Beides sind erfolgreiche Wahlslogans von Donald Trump. Was man beim neuen US-Präsidenten missbilligt oder belächelt, weil sich darin sein Großmachtchauvinismus offenbart, gilt der Union als völlig normal.

Was bei denen, die wie Trump von einer massenhaften Deportation träumen, nicht erst neuerdings »Remigration« heißt, wird bei denen, die an bürgerlicher Seriösität interessiert sind, verharmlosend »Rückführung« genannt. Demnächst wetteifert Friedrich Merz aber womöglich mit dem US-Präsidenten Trump um den zweifelhaften Status des Abschiebeweltmeisters. In der Asylpolitik klingen CDU und CSU ganz ähnlich wie die AfD, von der sie den rechtspopulistischen Grundsatz »Bett, Brot und Seife« für Ausreisepflichtige übernommen haben.

Man übersieht geflissentlich, dass nicht Migration die Mutter aller politischen Probleme ist, wie Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) einst behauptete, vielmehr die stark wachsende sozioökonomische Ungleichheit. Aus der sich fast überall auf der Welt vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich resultieren nämlich ökonomische Krisen, ökologische Katastrophen sowie Kriege und Bürgerkriege, die wiederum größere Migrationsbewegungen auslösen.

Auf dem Weg in eine andere Republik?

Manchen seiner Kritiker*innen gilt Olaf Scholz als schlechtester Kanzler seit Gründung der Bundesrepublik; vielleicht wird Friedrich Merz der schrecklichste. Selbst wenn er das Land nicht auf den österreichischen Irrweg einer Normalisierung des parteipolitisch organisierten Rechtspopulismus und -extremismus führt, folgt der »Fortschrittskoalition« von SPD, Bündnisgrünen und FDP, die keine war und vorzeitig zerbrach, wahrscheinlich eine Rückschrittskoalition, die den sozialen Klimawandel für einen Frontalangriff auf demokratische Errungenschaften und den Wohlfahrtsstaat zu nutzen versucht.

Fast alles, was die Ampel-Koalition an minimalem umwelt-, klima- und gesellschaftspolitischen Fortschritt bewirkt hat, will die Union rückgängig machen. Es betrifft die Abschaltung der Atomkraftwerke, das Gebäudeenergiegesetz, das Bürgergeld, die Einschränkung der Agrardieselrückvergütung, die Legalisierung von Cannabis, die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag, das Verbrenner-Verbot, die beschleunigte Einbürgerung und die generelle Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft. Das ist nicht konservativ im Hinblick auf die Sicherung des Bestehenden, sondern schlicht reaktionär. Wer in einem »Law-and-Order-Deutschland« (CSU) leben will, freut sich darüber, aber möchten wir tatsächlich zurück in die Vergangenheit?

Wenn jemand grundsätzlich nicht bereit ist, Arbeit anzunehmen, obwohl er arbeiten könnte, soll ihm nach dem Willen der Union die Grundsicherung komplett gestrichen werden. CDU und CSU wollen Sanktionen bei Fehlverhalten »schneller und unbürokratischer« verhängen und die Leistungen ganz streichen, wenn jemand mehr als einen Termin beim Jobcenter versäumt. Getroffen von solchen Totalsanktionen würden weniger »Drückeberger« als Menschen, die kognitiv, gesundheitlich oder psychisch beeinträchtigt sind, die ihre Behördenbriefe nicht mehr öffnen, und solche, die Schreiben der Jobcenter wegen Sprachbarrieren nicht verstehen.

Das Bundesverfassungsgericht hat am 5. November 2019 entschieden, dass die Grundsicherung im Normalfall um maximal 30 Prozent gekürzt werden darf. Das Gericht beruft sich dabei auf die Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes, die laut Artikel 79 (sog. Ewigkeitsklausel) selbst bei 100-prozentiger CDU-Mehrheit nicht verändert werden dürfen. Wenn es um die Würde des Menschen, die Demokratie und den Sozialstaat geht, hat der Verfassungsgeber solch inhumanen Maßnahmen einen Riegel vorgeschoben.

Was lehren die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit? Einerseits muss im Falle einer fortdauernden Rechtsentwicklung eher auf die Judikative als auf die Legislative und die »Parteien der Mitte« vertraut werden. Andererseits sollte durch breite Aktionsbündnisse, die Kirchen und Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände, Flüchtlingsinitiativen, Armutskonferenzen, Arbeitslosenforen und Globalisierungskritiker*innen umfassen, mehr außerparlamentarischer Druck erzeugt werden. Nur so lässt sich eine sozial- und »migrationspolitische Zeitenwende« (Alexander Dobrindt) aufhalten.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt die Bücher »Deutschland im Krisenmodus« sowie »Umverteilung des Reichtums« veröffentlicht.

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