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Migration und Flucht: Begrüßung statt Begrenzung
Armin Osmanovic will Migration nach Deutschland durch ein Begrüßungsgeld fördern
Das beherrschende Thema des Wahlkampfes ist die Migration. Doch die Debatte steht auf dem Kopf. Sie hat nichts mit der demografischen Herausforderung Deutschlands zu tun, die im Vergleich mit anderen Industrieländern besonders düster ist, weil seit Jahrzehnten die Zahl der Sterbefälle weit über der Zahl der Geburten liegt. Derzeit sterben über eine Million Menschen pro Jahr, und nur 690 000 Kinder werden geboren.
Die Vergreisung des Landes schreitet schnell voran. Dies gefährdet nicht nur die Existenz der Sozialsysteme, sondern auch die weitere wirtschaftliche Entwicklung, weil in den nächsten zehn Jahren etwa zehn bis zwölf Millionen Menschen der Babyboomergeneration in Rente gehen. Eins ist klar: Es kamen und kommen zu wenige Menschen aus dem Ausland nach Deutschland, obwohl 2015 und 2022 durch die Kriege in Syrien und der Ukraine mehr als üblich Menschen zugewandert sind.
Armin Osmanovic ist seit 2020 Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung für Nordafrika.
Zwischen 2000 und 2023 sind Zahlen des Statistischen Bundesamtes zufolge 8 216 000 Menschen mehr ein- als aus Deutschland abgewandert. Diese Nettozuwanderung führte dazu, dass Deutschland trotz des Geburtendefizits 2,2 Millionen Menschen hinzugewann und heute etwa 84,48 Millionen Einwohner zählt. Ohne die Nettozuwanderung der vergangenen Jahre läge die Einwohnerzahl heute schon bei nur noch 74 Millionen und weitaus weniger Arbeitskräfte müssten die Rentner*innen finanzieren. Dass der Anteil der Bundesmittel zur Rentenversicherung bei 2,8 Prozent am Bruttoinlandsprodukt liegt und damit niedriger als 2003 (3,5 Prozent) ausfällt, ist vor allem der Nettozuwanderung und damit der hohen Erwerbstätigenquote zu verdanken.
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Die Zuwanderungszahlen sind aber bei weitem nicht genug, um den Abgang der Babyboomer in die Rente auszugleichen. Denn nur sieben bis acht Millionen junge Menschen kommen in den nächsten zehn Jahren auf den Arbeitsmarkt. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass viele dieser jungen Menschen möglicherweise ins Ausland abwandern könnten.
Um also die Lücke zu schließen, wäre eine Nettozuwanderung von mindestens einer Million Menschen pro Jahr notwendig, da nicht alle Zugewanderten Arbeitskräften sind, sondern auch Familienangehörige, sodass von zwei Zugewanderten einer für den Arbeitsmarkt zur Verfügung steht.
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Eine Million Nettozuwanderung pro Jahr ist aber nicht realistisch, denn anders als die Phalanx aus AfD, BSW, CDU/CSU und FDP glauben machen will, gibt es nicht genügend Migrant*innen weltweit, die nach Deutschland kommen wollen. Das hat vor allem damit zu tun, dass sich nur wenige Migrant*innen nach Deutschland aufmachen. Denn fast alle Industrieländer haben das gleiche Problem wie Deutschland, nämlich eine schnell alternde Gesellschaft. In Deutschland liegt die Geburtenrate bei etwa 1,5 Kindern pro Frau, in Italien und Spanien bei 1,2, in Südkorea nur noch bei 0,7. Für eine stabile Bevölkerungsentwicklung wären 2,1 notwendig.
Statt also Milliarden Euro auszugeben, um Flüchtlinge mit Zäunen und Polizeikräften abzuwehren, müsste man allen Ankommenden ein Begrüßungsgeld zahlen und hoffen, dass sie auf Dauer oder zumindest einige Jahre in Deutschland bleiben.
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