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Das Projekt Arbeiterklasse
Die Arbeiterbewegung musste »Klasse« als Identität stets selbst herstellen. Das beinhaltete den Kampf gegen Patriarchat, Rassismus und Antisemitismus
Klassen- und Identitätspolitik werden oft als Gegensatz gesehen – wobei die Klassenpolitik den Ruf des Volksnahen hat, Identitätspolitik dagegen als urban und elitär gilt. Die Rechte befeuert diese Gegenüberstellung: Neoliberale und Faschisten wetteifern darum, die »kleinen Leute« zu vertreten. Doch was wäre, wenn Klassen- und Identitätspolitik am Ende dasselbe sind? Denn Klasse kam nie von selbst. Zwar strukturiert Klasse jede kapitalistische Gesellschaft, doch als politische Identität und zu mobilisierendes »Wir« muss sie immer neu organisiert werden. Bereits im 19. Jahrhundert formulierte die sozialistische Bewegung daher Forderungen gegen Rassismus und kämpfte für andere Geschlechterverhältnisse. Dieses »Projekt Arbeiterklasse« profitierte von jüdischen, weiblichen, internationalen Perspektiven und war als Identität nicht homogen, sondern vielfältig.
Sozialismus und Frauenbewegung
In seinen Anfängen war der deutschsprachige Sozialismus durchaus eine Männerbewegung. Das Eisenacher Programm der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründeten »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei« forderte 1869 das Wahlrecht für »alle Männer vom 20. Lebensjahr an« und wollte Frauenarbeit einschränken – proletarischer Antifeminismus in Reinform. Ganz anders liest sich, zwanzig Jahre später, das Erfurter Programm von 1891. Es forderte ein Wahlrecht »ohne Unterschied des Geschlechts« und obendrein die »Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlich- und privatrechtlicher Beziehung gegenüber dem Manne benachteiligen«. Damit waren nicht nur die Wahlen, sondern auch das Private politisch – in nur einer Generation hatte sich das Geschlechterbild des Sozialismus wesentlich gedreht.
Diese Wende war Ergebnis einer Radikalisierung in der Illegalität. Der »eiserne Kanzler« Bismarck hatte Gewerkschaften und sozialistische Parteien ab 1878 im Zuge der »Sozialistengesetze« verboten. Das generische Maskulinum führt in die Irre, denn Sozialistinnen wurden ebenso hart und zeitlich viel länger unterdrückt: Frauen durften im Deutschen Reich bis 1908 nicht Mitglied politischer Vereine werden. Sie etablierten deshalb eine dynamische, basisdemokratische Organisierung. In der Verbotszeit übernahm diese Bewegung den Marxismus als Theorie. Er hatte Frauen mehr zu bieten als die bisherigen, vom handwerklichen Ethos inspirierten Programme. Bereits im »Kommunistischen Manifest« von 1848 hatten Marx und Engels mit der Forderung nach Abschaffung der bürgerlichen Familie provoziert. In seiner populären Schrift »Anti-Dühring« von 1878 hielt Engels fest, »daß in einer gegebenen Gesellschaft der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation ist«.
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Es war August Bebel, der 1879 in seinem Buch »Die Frau und der Sozialismus« das Linkssein von der Geschlechterfrage her dachte. Er verband Klassenkämpfe und Frauenemanzipation zu einem gemeinsamen Projekt – einer Identitätspolitik, die darauf abzielte, getrennte Kämpfe in einer gemeinsamen Erzählung zu bündeln. Bebel beschrieb in teils utopischen Schilderungen eine sozialistische Gesellschaft als Kontrast zum Elend seiner Gegenwart. Einige Jahre später folgte Engels mit seiner 1884 erschienenen Schrift »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates«, in dem er den Historischen Materialismus als Geschichtstheorie weiterdachte.
Engels zeichnete die Abfolge von Produktionsweisen von der Urgesellschaft zum Industriekapitalismus als vergeschlechtlichte Arbeitsteilung, Produktionsverhältnisse waren stets auch Geschlechterverhältnisse. So sah er den Übergang von Jäger- und Sammlergesellschaften zu Ackerbau und Viehzucht als »weltgeschichtliche Niederlage« der Frauen. Durch das Eigentum an Land seien erstmals patriarchale Strukturen entstanden. Das männliche Bedürfnis, Land an die eigenen Kinder zu vererben, habe die monogame Ehe begründet und mit ihr den Drang, Reproduktion und Sexualität von Frauen zu kontrollieren. Der Historische Materialismus lieferte Impulse für die zweite Frauenbewegung, die in den späten 1960ern und 1970er Jahren stark marxistisch geprägt war. Die »queerfeministische Ökonomiekritik« etwa von Gabriele Winker, aber auch der »Marxismus-Feminismus« von Frigga Haug knüpfen heute daran an. Doch nicht nur der westliche Feminismus, auch etwa die in der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava gelehrte »Jineoloji« – die »Wissenschaft der Frauen« – nimmt Anleihen beim Marxismus.
Ein »intersektionales« Programm
Auch ein Vorläufer des heutigen Organizing wurde von sozialistischen Frauen erfunden. In der Verbotszeit wählten Arbeiterinnen notgedrungen informelle und basisnahe Organisationsformen. Sie beriefen offene Versammlungen ein, in denen Agitationskommissionen gewählt wurden. Nachdem auch diese verboten wurden, entstand ein noch flexibleres System von lokalen Vertrauensfrauen. So entstand eine proletarische Frauenbewegung, in der gewerkschaftliche und politische Kämpfe zusammengingen. Deren prominenteste Figur war Clara Zetkin. Sie legte 1889 mit ihrer Schrift »Die Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart« ein sozialistisches Programm für die Frauen der Arbeiterklasse vor. Die organisatorische und programmatische Stärke der Arbeiterinnen führte dazu, dass das nach Bismarcks Sturz 1891 verfasste Erfurter Programm Frauen nicht mehr ignorieren konnte. Das Programm verurteilte »nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse«.
Damit war das erste »intersektionale« Programm der deutschen Linken formuliert. Der Begriff ist anachronistisch zugespitzt – doch lässt sich sagen, dass sich seitdem jede linke Generation mit der Frage auseinandersetzte, wie die Eigenlogik verschiedener Kämpfe gegen Ausbeutung und Diskriminierung zu verbinden sei. Begriffe wie Triple Oppression, Intersektionalität, Marxismus-Feminismus sind Ausdrücke dieser Debatte, die viele Rückschläge und Traditionsbrüche erlebte. So unterschied der in der Konkursmasse der Studierendenbewegung ab 1970 populäre Maoismus tatsächlich Haupt- und Nebenwidersprüche – eine Hierarchisierung, die das Erfurter Programm nicht kannte.
Allerdings war das Programm ein Anspruch, der nicht mit der Bewegungspraxis verwechselt werden darf. In der sozialistischen Presse galten Frauenkämpfe noch längere Zeit als Nebensache – weshalb Clara Zetkin mit der »Gleichheit« eine sozialistische Frauenzeitschrift gründete. Der Anteil an Frauen in Gewerkschaften betrug 1892 gerade einmal zwei Prozent. Damit waren 0,1 Prozent aller Arbeiterinnen Teil der Arbeiterbewegung. Dies spiegelte sich in der Praxis, etwa wenn Tarifverträge standardmäßig niedrigere Löhne für Frauen vorsahen. Mit dem Erfurter Programm hatten Arbeiterinnen jedoch eine Grundlage, gegen diese Zustände anzukämpfen. Die sozialistische Bewegung wurde mit ihm zum Emanzipationsraum, in dem Frauen gleichberechtigte Teilhabe einforderten. Ein Erfolg war 1908 die Novelle des deutschen Vereinsrechts. Da auch Parteien rechtlich Vereine waren, konnten Frauen endlich Mitglieder werden – die Reform stärkte ihre Rolle in der sozialistischen Bewegung.
August Bebel ging in Geschlechterfragen sogar weiter. Wenig bekannt ist, dass er 1897 einer der vier Erstunterzeichner einer Petition des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld war. Diese forderte die Streichung des Paragrafen 175 aus dem Strafgesetzbuch – eine der ersten Bewegungen zur Entkriminalisierung männlicher Homosexualität. Insgesamt unterzeichneten 6000 Personen. Bebel sorgte im Folgejahr dafür, dass der Paragraf im deutschen Reichstag diskutiert wurde, die weltweit erste Parlamentsdebatte zu diesem Thema. Obwohl Bebel aus heutiger Sicht sehr vorsichtig argumentierte, war seine Intervention damals ein Skandal. Er schadete der Sozialdemokratie jedoch nicht. Vorstöße wie dieser markierten eine Zukunftserzählung. Nicht der Liberalismus, sondern der Sozialismus forderte um 1900 die traditionellen Herrschaftsstrukturen des Kaiserreichs heraus. Der Anspruch, »verkrustete Strukturen« aufzubrechen, wie ihn heute libertäre Sozialdarwinisten vor sich hertragen, war damals ganz selbstverständlich links besetzt. Gestrichen wurde der Paragraf 175 übrigens erst 1994.
Rassismus und Kolonialismus
Auch der Widerstand gegen Kolonialismus, völkische Weltanschauungen und Rassentheorien war Teil des sozialistischen Zukunftsprojekts. Das Erfurter Programm dekonstruierte den Rasse-Begriff nicht, sprach sich aber gegen Diskriminierung nach »Rasse« oder Nationalität aus. Dies beinhaltete auch Widerstand gegen Antisemitismus, der sich gerade vom christlichen Vorurteil zum Rasse-Antisemitismus wandelte. Den Ton hatte ein Artikel von Friedrich Engels schon 1890 gesetzt, der unter dem Titel »Über den Antisemitismus« Judenfeindlichkeit verurteilte. Letztere war damit nicht aus der Welt. Sie wurde der arbeitenden Jugend in Kirche und Schule gepredigt und verschwand nicht mit dem Parteieintritt. Wichtig ist jedoch die Unterscheidung, ob Antisemitismus in einer Bewegung aufzufinden war – oder ob er diese Bewegung strukturierte. Letzteres war in der Sozialdemokratie nicht der Fall. Die Positionierung gegen Antisemitismus machte sie auch für säkulare Jüdinnen und Juden zu einem Emanzipationsraum. Zeitweise hatten zehn Prozent ihrer Reichstagsfraktion einen jüdischen Hintergrund – deutlich über dem Anteil der Gesamtbevölkerung. Die Sozialdemokratie und später die KPD wurden daher regelmäßig zur Zielscheibe antisemitischer Angriffe.
In der sozialistischen Presse galten Frauenkämpfe nochlängere Zeit als Nebensache.
Rassetheorien wurden nicht nur gegen Jüdinnen und Juden ins Feld geführt, sie dienten auch zur Legitimation europäischer Kolonialpolitik. Seitdem 1884 auch Deutschland Kolonien besetzte und damit England und Frankreich herausforderte, diskutierte die sozialistische Linke Europas über Widerstand gegen den Imperialismus. In der imperialen Habsburgermonarchie Österreich-Ungarn wurden zeitgleich Debatten geführt über die »Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie« – so der Titel einer Schrift des Austromarxisten Otto Bauer aus dem Jahr 1907. Der sozialistische Internationalismus umfasste somit drei Komplexe: die Abwehr kolonialer Gewaltpolitik, die Forderung eines multiethnischen Staates und die Zusammenarbeit nationaler Arbeiterbewegungen.
Um Letzteres zu erleichtern, wurde 1889 die Zweite Internationale gegründet, die die nationalen Arbeiterbewegungen zu einer Weltbewegung verbinden sollte. Sie blieb jedoch ebenso wie ihre 1864 gegründete Vorläuferin auf Europa und Nordamerika beschränkt. Erst die Dritte Internationale schaffte es in den 1920er und 1930er Jahren, dauerhafte Partnerschaften mit antikolonialen Befreiungsbewegungen rund um den Globus aufzubauen – während gleichzeitig ihre Autonomie durch den Stalinismus ausgehöhlt wurde. Hatte Marx im »Kommunistischen Manifest« noch von gemeinsamer Aktion der »zivilisierten« Länder gesprochen, weitete sich Ende des 19. Jahrhunderts die Sicht. Bereits Marx’ Spätwerk, aber vor allem Rosa Luxemburg und Lenin brachen mit der Vorstellung, die Weltrevolution würde sich zunächst auf die industrialisierten Länder beschränken. Lenin drehte dies geradezu um, als er die Revolution im »schwächsten Glied« der imperialistischen Kette erwartete.
Klasse als Identitätspolitik
Der kurze historische Abriss zeigt, dass Geschlechtergerechtigkeit und Antirassismus im 19. Jahrhundert tragende Pfeiler bei der Formierung eines sozialistischen Projekts waren. Dabei blieben Ambivalenzen bestehen: rassistische und antifeministische Inhalte wurden auch in der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften vertreten. Reaktionäre Inhalte drangen in diese Massenbewegungen durch ideologische Instanzen wie Volksschule, Kirche und Militärdienst ein. Sie entstanden aber auch »von selbst« aus den kapitalistischen Verkehrsformen. So reproduzierte sich weltmarktorientiertes Standortdenken 1884 schon in der Arbeiterbewegung, als ein Teil der sozialistischen Reichstagsfraktion mit Subventionen für Dampferlinien in die Kolonien liebäugelte. Die Strahlkraft des sozialistischen Projekts lag jedoch nicht in solchen Anpassungen. Hätte es die Internationale nicht gegeben, wären die sozialistischen Parteien Europas reine Lobbyorganisationen für ihre jeweilige Facharbeiterschaft gewesen – wer würde heute noch von ihnen sprechen?
Das im 19. Jahrhundert formierte sozialistische Projekt zog seine Kraft daraus, dass es nicht vorgefundene Gesinnungen der Anhängerschaft weitertrug, um Wahlerfolge zu erzielen. Die sozialistische Bewegung setzte stattdessen auf ein radikales Zukunftsprogramm, das sie jedoch stets auf Tagesforderungen herunterbrach. Das radikale Gleichheitsversprechen auch für Frauen, Juden und Jüdinnen oder Homosexuelle provozierte viele Mitglieder und Wähler. Doch die Sozialistische Bewegung konnte mit ihrer Synthese aus Realpolitik und Utopie, aus Klassenkampf und Antidiskriminierung am Ende mehr Menschen versammeln als es eine Selbstbeschränkung auf das gerade Denk- und Durchsetzbare vermocht hätte. Debatten über Vielfalt und Diversität waren somit elementarer Teil des sozialistischen Projektes – auch wenn der sozialistische Mainstream von einem Trend zur Säkularisierung überzeugt war. Man ging langfristig von der Assimilation nationaler, religiöser und sprachlicher Minderheiten aus, dies wurde nicht zuletzt von jüdischen Sozialistinnen und Sozialisten vertreten. Die sozialistische Bewegung löste den Widerspruch von Universalismus und Partikularismus also nicht auf. Aber sie wich der Frage nicht aus, sondern machte sie zum Teil ihres Klassenprojekts.
Eine Gegenüberstellung von Identitätspolitik und Klassenpolitik lässt sich also aus ihrer Geschichte nicht ableiten. Einerseits war die Herstellung von Klassenbewusstsein selbst Identitätspolitik. In jeder Rede und jedem Flugblatt predigte die Sozialistische Bewegung arbeitenden Menschen, dass sie Teil der Arbeiterklasse waren. Die Vorstellung, dass Klassenbewusstsein »früher« etwas Organisches war und sich heute postmodern aufgelöst hat, ist Humbug. In der Hochphase des Industriekapitalismus waren religiöse Identitäten und konfessionelle Spaltungen für eine Mehrheit der Arbeitenden bedeutender als heute. Zugewanderte Arbeiter der ersten Generation sahen sich zudem eher als Bauern, sie wollten raus aus der Lohnarbeit und träumten vom eigenen Hof. Und auch in den Städten dauerte es zwei Generationen, bis aus ständisch gesinnten Handwerkern proletarische Facharbeiter wurden, die sich eher mit ihrer Klasse als mit ihrem Beruf identifizierten. Auch Konflikte um Migration sind nichts Neues. Bereits im 19. Jahrhundert rangen Sozialismus und Katholizismus um polnische Migrantinnen und Migranten im Ruhrgebiet.
Klasse als Bündnisangebot
Erfolgsrezept beim Aufbau der Identität »Arbeiterklasse« war es, dass diese Klasse andere Diskriminierungen nicht verleugnete, sondern Bündnisangebote formulierte. Ihre Grundlage war ein Ideal menschlicher Gleichheit, politische Strategie das Herausarbeiten gemeinsamer Interessen. Ansprüche auf Teilhabe wurden nicht als symbolische Repräsentanz im Bestehenden formuliert, sondern Gleichheit vor dem Gesetz und materielle Gleichheit wurden verbunden. Die selbst gestellte Aufgabe der proletarischen Frauenbewegung war dementsprechend die Durchsetzung von Frauenwahlrecht und gleichem Lohn für gleiche Arbeit.
Ähnliches galt für den Kampf gegen Antisemitismus oder Kolonialrassismus: Teilhabe und Antidiskriminierung waren verknüpft mit der Forderung nach einem ökonomisch-politischen Systemwechsel. Mit dieser Verbindung konnte sich die sozialistische Bewegung gegenüber dem Liberalismus profilieren. Denn dieser berief sich auf die Aufklärung, doch die Realpolitik liberaler Parteien vertrat die Interessen weißer Minderheiten. Deutsche Liberale hatten kein Problem mit Institutionen wie dem preußischen Dreiklassenwahlrecht, in der Reiche bis 1918 mehr Stimmen hatten als Arme. Auch Teile der bürgerlichen Frauenbewegung liebäugelten mit einem »Damenwahlrecht« für begüterte Frauen. Doch selbst das war für die Mehrheit der Liberalen des 19. Jahrhunderts undenkbar.
Der sozialistischen Bewegung gelang es, diese Widersprüche zu skandalisieren. Fehlende Demokratie in den Fabriken, die elitäre Position des liberalen Bürgertums waren ebenso Dauerthema wie die blinden Flecken und Ausschlüsse liberaler Politik. Nicht nur der Sozialstaat, sondern auch viele andere gesellschaftliche Errungenschaften, die heute unkritisch als »Liberalisierung« betitelt werden, sind in weiten Teilen von Sozialistinnen und Sozialisten erkämpft worden. Bereits genannt wurde Bebels Einsatz für die Entkriminalisierung von Homosexualität, doch auch das Frauenwahlrecht war Ergebnis der Novemberrevolution 1918. Die erste deutschlandweite Kampagne für ein Recht auf Abtreibung organisierten dagegen 1931 Frauen aus dem Umfeld der KPD. Diese Kämpfe sind Fachleuten durchaus bekannt, doch wirken sie wenig identitätsstiftend für die heutige Linke. Diese agiert entweder geschichtslos oder sie legt anachronistische Maßstäbe an historische Vorbilder an. Zu Recht verweist sie auf Überschneidungen des traditionellen Sozialismus mit Rassismen und Chauvinismen der Mehrheitsgesellschaft. Übersehen wird jedoch das Kunststück, eine bildungsferne, konfessionell und ethnisch gespaltene Schicht im Identitätsprojekt »Klasse« zu vereinen.
Bereits das Erfurter Programm betonte, der Sozialismus wolle nicht klassenreduktionistisch sein. In ihrem Bemühen, dasselbe Ziel zu erreichen, hat die heutige Linke das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Um wieder zu begreifen, wie sich Klasse anfühlt, braucht es für viele neben Organizing, Haustürgesprächen oder soziologischer Klassenanalyse auch den Blick in die Vergangenheit. Er macht deutlich, dass Klassenbewusstsein nie naturgegeben war, sondern immer schon organisiert werden musste.
Ralf Hoffrogge ist Historiker und forscht zu Gewerkschaftsgeschichte, Geschichte der Arbeit und sozialen Bewegungen. Er ist in der Mietenbewegung aktiv; dieses Jahr erscheint unter dem Titel »Das laute Berlin« sein neuestes Buch über Berliner Mietenproteste und die Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen.
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